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Jürgen
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politisches Ereignis, sondern „ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeu-
tung“27 sei. Diese Dimension sei noch nicht genügend wahrgenommen worden;
einzig der Kulturhistoriker René Fülöp-Miller habe sich in seinem materialrei-
chen Buch Geist und Gestalt des Bolschewismus dieser Aufgabe gestellt und ver-
sucht, die neue Lebensform zu begreifen, die aus der Revolution resultiert sei.
Laut Fischer habe er sie in der „Entpersönlichung des Menschen“ [WRG 500]
sowie im „Triumph der Maschine über die Seele“ entdeckt und seinen Befund,
„dass die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei“
[WRG 499], als Warnung präsentiert.
Fischer geht es darum zu zeigen, dass die neue Lebensform bestimmten
historischen Voraussetzungen entspringt. Er vertritt die These, dass eine mate-
rialistische Geschichtsschreibung zunächst die extreme Dauer des russischen
Feudalismus zum Ausgangspunkt nehmen müsse. Das Fehlen einer bürgerli-
chen Opposition habe die Intellektuellen dazu gezwungen, sich entweder einer
mystischen Romantik oder einem pessimistischen Nihilismus hinzugeben. Dazu
seien Fёdor Dostoevskijs „Glauben an eine religiöse Sendung“ [WRG 500] und
Lev Tolstojs „Evangelium der Gewaltlosigkeit“ [WRG 501] gekommen. In diese
geistige Situation sei die Revolution mit explosiver Gewalt eingebrochen und
habe sich der Aufgabe gestellt, die gesellschaftliche Entwicklung zu forcieren.
Fischer sieht hierin den Grund für die ‚Vergötterung‘ der USA seitens der russi-
schen Revolutionäre.
Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue
technische und ökonomische Formen glauben […]. Das Bekenntnis zu Amerika, es war
das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermensch-
licher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte. [WRG 501]
Dieser hohe Stellenwert der Technik spielt denn auch in Fischers auf diese Einlei-
tung folgender Besprechung aktueller sowjetischer Literatur eine entscheidende
Rolle. Fischer zeigt an Fёdor Gladkovs Roman Zement das Ineinandergreifen
von sozialistischer Gesinnung und Hinwendung zur Technik. Erst die Wieder-
inbetriebnahme der Zementfabrik durch die Arbeiter löse die privaten, politi-
schen und sozialen Probleme der Figuren. Der Roman wird als „der Hymnus
der Arbeit, der Hymnus der Revolution“ [WRG 504] gewertet, in dem sich „das
leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung
des Geistes in Rußland“ manifestiere. Fischers weitere Beispieltexte von Vikentij
27 Ders.:
Wandlung des russischen Geistes. In:
Der Kampf, H.
11/1927, S.
499–507, hier
S. 499. Im Folgenden im Fließtext unter Angabe der Sigle [WRG] samt Seitenzahl
nachgewiesen.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur