Seite - 93 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Bild der Seite - 93 -
Text der Seite - 93 -
E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 93
deutschen Justizfunktionär zu „photographieren“, als vorbildlich herausstellt,33
unterzieht Lukács gerade diese Konzentration auf das Faktische einer harschen
Kritik. Lukács betrachtet die Reportage als eine Fetischisierung der empirischen
Wirklichkeit, die zu einer „mechanisch-einseitige[n] Überbetonung des Inhalt-
lichen“ führe.34 Er bewertet das Buch von Ottwalt – und mit ihm diejenigen von
Ėrenburg und Sergej Tret’âkov – als ein untaugliches Formexperiment, „den
Roman mit den Mitteln der Publizistik, der Reportage zu erneuern“.35 Die eben-
falls noch 1932 erfolgende, die Reportage als Form rechtfertigende Replik Ernst
Ottwalts in der Linkskurve dürfte weitgehend mit Fischers Position überein-
stimmen. Fischer hatte im Jahr zuvor zustimmend einen Vortrag Tret’âkovs im
Wiener Architektenverein referiert, in dem Tret’âkov die Reportage als zeitge-
mäße „revolutionäre Form“36 gepriesen hatte. Ottwalt nennt in seiner Replik als
positives Beispiel gerade Tret’âkovs Buch Feld-Herren und rühmt es als „den
plastischsten literarischen Ausdruck des Fünfjahresplans“37 in der Sowjetunion.
Ernst Fischer feiert Tret’âkovs Feld-Herren als „das Heldenlied einer neuen
Zeit“, in der „der Traktorführer zum Heros“ werde. Fischer sieht hier die Ver-
wirklichung zweier Ideale: Zum einen übertrage Tret’âkov die Form des Kol-
lektivromans in seine Reportage, zum anderen erfülle er das Bedürfnis nach
„de[m] heroische[n] Mythos […], der von den Massen gefordert wird“38 und
den Fischer auch in seinem Artikel „Kolportage und Heldenmythos“ von 1931
als „das innerste Wesen der Kunst“39 bezeichnet hat. In einer nicht unbedenk-
lichen, latent kunstfeindlichen Diktion schreibt Fischer über Feld-Herren:
33 Vgl. ebd.
34 Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich eines
Romans von Ottwalt. In: ders.: Probleme des Realismus I. Essays über Realismus.
Neuwied-Berlin: Luchterhand 1971 (= Gesammelte Werke, Bd. 4), S. 35–68. Zuerst
in: Linkskurve, H. 7/1932, S. 23–30, und H. 8/1932, S. 26–31.
35 Ebd., H.
7/1932, S. 25.
36 Ernst Fischer: Ein Hymnus auf den Fünfjahrplan. Ein Vortrag Sergej Tretjakows.
In: Arbeiter-Zeitung (8.2.1931), S. 6. Der Titel des Vortrags, den Tret’jakov bereits
am 21.1.1932 in Berlin gehalten hatte, lautete:
Der Schriftsteller und das sozialistische
Dorf. Er berichtet darin von seinen Erfahrungen auf der Kolchose „Kommunistischer
Leuchtturm“. Der Text findet sich in:
Sergej Tretjakov:
Die Arbeit des Schriftstellers.
Aufsätze. Reportagen. Porträts. Hg. v.
Heiner Boehncke. Reinbek b.H.:
Rowohlt 1972,
S. 117–134.
37 Ernst Ottwald:
„Tatsachenroman“ und Formexperiment. Eine Entgegnung an Georg
Lukács. In: Linkskurve, H. 10/1932, S. 21–26.
38 Ernst Fischer: Feld-Herren. In: Arbeiter-Zeitung (13.3.1932), S. 16.
39 Ders.: Kolportage und Heldenmythos. In: Arbeiter-Zeitung (2.8.1931), S. 13.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur