Seite - 103 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Bild der Seite - 103 -
Text der Seite - 103 -
Miszellen zum Amerika-Russland-Diskurs 103
Kampf gegen die „grausamen Klassenunterschiede“ und gegen „den Egoismus“,
wovon er sich eine Strahlkraft auf die USA erhoffte:
Roosevelt hat immer gesagt, wir in Amerika müßten der Hinterlist im öffentlichen
Leben Herr werden, so wie wir die Habgier gebändigt haben. In Rußland haben die
Kommunisten ein System erdacht, um beide niederzuhalten. […] Es gibt keinen Grund-
besitz, kein Eigentum, kein Erbgut. Jeder Weg zu persönlicher Bereicherung ist durch die
Diktatur versperrt. (Sehr zweifelhaft. Anm. d. Red.)24
Nicht nur die Neue Freie Presse-Redaktion zog die von Dreiser aufgezeigten
„Lichtseiten der Diktatur“25 wiederholt in Zweifel:
Für den sozialdemokratischen
Journalisten Karl Sailer, der Dreisers 1929 dann in deutscher Übersetzung bei
Zsolnay erschienenes Russland-Reisebuch für die Zeitschrift Der Kampf rezen-
sierte, offenbarte sich darin vor allem eine nach seinem Dafürhalten für Ameri-
kaner typische „Naivität“.26 Immerhin ziehe Dreiser aber „das große Erlebnis des
Sozialismus“ an,
fühlt er, […] „… daß unser eigenes Land schließlich und endlich sowjetisiert werden
kann – vielleicht noch zu meinen Lebzeiten. Es ist kein so großer Schritt von einer
Nation der vertrusteten Warenhäuser, Hotels und Zeitungen […] zu einem sowjetis-
tischen Staatstrustsystem unter der Führung einer herrschenden Gruppe, wie dies in
Rußland besteht.“27
Sympathien für eine Sowjetisierung der USA hat René Fülöp-Miller28 von Drei-
ser mitnichten vernommen, dafür aber den Versuch einer unangebrachten
Beschönigung russischer Verhältnisse, obschon sich Dreiser der sowjetrussi-
schen Wirklichkeit schlussendlich nicht verschließen habe können:
Verläßt er […] die „projektierten“ großartigen Fabriken, Fürsorgeanstalten und Garten-
städte der bolschewistischen Theorie, […] dann ändern sich wie mit einem Schlag seine
Eindrücke und Stimmungen. […] Wohl gebe es genug der erhabenen Pläne, […] dane-
ben aber herrschten bittere Armut, Bettelei, Arbeitslosigkeit, Zensur und Terror.29
Wovon Fülöp-Millers Rezension vor allem zeugt, ist Wehmut über die ‚Ent-
machtung‘ der Alten Welt: Europa habe aufgehört, das „bewunderte Vorbild“
24 Ders.: Einige Lichtseiten der Diktatur. In: NFP (29.3.1928), S. 3.
25 Ebd.
26 Z.B. wenn er lange Schlangen vor den Geschäften als Ausdruck eines (behaupteten)
Wohlstands der Russen deutet; vgl. K.H.S.:
Sowjetrußland. In:
Der Kampf, Nr.
5/1929,
S. 241f.
27 Ebd.
28 Zu Fülöp-Miller vgl. ausführlich den Beitrag von K. Plachov.
29 René Fülöp-Miller: Newyork – Moskau. In: NFP (7.4.1929), S. 25f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur