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Miszellen zum Amerika-Russland-Diskurs 111
durch einen „Europäischen Bund“ mit gemeinsamer Außen-, Handels- und
Verteidigungspolitik beigekommen werden
– zunächst, denn:
„Die Ergänzung
des europäischen bildet der abendländische Zusammenschluß: Atlantis. Zwi-
schen Paneuropa, den britischen Dominions und Panamerika muß eine innige
Gemeinschaft geschaffen werden“.62 Die Neue Freie Presse gestand dem Führer
der Paneuropa-Bewegung zu, mit seiner Broschüre Stalin richtig als „roten
Napoleon“, dessen Diktatur das Versagen der kommunistischen Wirtschafts-
methoden beweise, entlarvt zu haben,63 wohingegen Haydu sich in Rußland
1932 an Coudenhove-Kalergis Fehlprognosen stieß.64 Bereits in dem mit sta-
tistischem Material und Aperçus zu aktueller ökonomischer Wissenschaftsli-
teratur durchwirkten Essay Ins Chaos? hatte Haydu die Weltwirtschaftskrise als
Beleg für die Dysfunktionalität des kapitalistischen (Welt-)Systems skizziert.65
Ohne Amerika geht es nicht, gab sich 1930 dagegen auch der aus der Ukraine
gebürtige Wiener Schriftsteller Emil Müller-Sturmheim überzeugt, als er ange-
sichts der wirtschaftlichen Instabilität Zentraleuropas für eine „Verschmelzung
amerikanischen und europäischen Wesens“ plädierte und als Grund hierfür
ins Treffen führte:
„Der Durchschnittsrusse hat den Lebensstandard eines bes-
seren Haustieres, während tausende amerikanische Arbeiter mit eigenem Auto
zur Fabrik fahren.“66
6 Synopse(n): AMERIKA EUROPA RUSSLAND
Pathogramme, die das Vorwalten von „Amerikanismus“ und „Bolschewismus“
als Menetekel für den Untergang des ‚Abendlandes‘ deuteten, provozierten auch
dazu, Perzeptionsmustern nachzuspüren. Eine „falsche Angst vor der Mechani-
sierung des Lebens“ mache „so verstockte Intellektuelle wie etwa Franz Werfel
zu Maschinenstürmern“, polemisierte Béla Balázs gegen Werfels Warnruf vor
Hyper-„Realismus“ als zugleich Plädoyer für bürgerliche „Innerlichkeit“: Sie
werfen „Amerikanismus und Bolschewismus in einen Topf, weil das russische
Proletariat nicht gewillt ist, auch weiterhin in unzivilisierter, tierischer Primi-
tivität zu leben“, und träumen sich „in ihrer dampfgeheizten und elektrisch
62 Richard Coudenhove-Kalergi: Stalin & Co. Leipzig: Paneuropa 1931, S. 32.
63 N.N.: Der gewandelte Bolschewismus. In: NFP (22.11.1931), S.
5.
64 Vgl. Haydu, Rußland 1932, S. 235–241.
65 Vgl. ders.:
Ins Chaos? Tragödie der Bauern, der Arbeiter, des Kapitals. Zürich–Leip-
zig–Wien: Amalthea 1931.
66 Emil Müller-Sturmheim: Ohne Amerika geht es nicht. Wien: Amalthea 1930, S. 5f.
bzw. 59.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur