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Lili Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag 121
auf diesem umkämpften Markt noch reüssieren, musste man also geschickt und
innovativ disponieren. Bereits dem Klappentext von Eine Frau erlebt den roten
Alltag und auch der Anzeige im Börsenblatt11 ist dies Bemühen abzulesen, ein
ganz besonderes Russland-Buch zu avisieren:
Dieser Tagebuchroman einer Wienerin, die auf ein Jahr in den „roten Betrieb“ der Puti-
low-Traktorenwerke als Arbeiterin eingetreten ist, enthält mehr als persönliche Erleb-
nisse und Bekenntnisse und ist reicher als es eine objektive Darstellung des heutigen
Leningrad sein könnte. Hier spricht nicht ein kritisch beobachtender Fremder, hier
schlägt ein lebendiges Menschenherz. In Werkstatt und Krankenhaus, im möblierten
Zimmer und auf der Straße kämpft sie Tag für Tag mit Qual und Lust den schweren Lie-
besstreit des Einzelwesens mit dem Kollektiv. Immer wieder findet ein Ausgleich statt
und immer wieder bricht der Kampf von neuem los. Wir bekommen eine Vorstellung
von der unendlichen Kleinarbeit, deren es bedarf, um die Menschen für neue Ideen reif
zu machen. Wir erleben mit einer Liebenden und Begeisterten das Dilemma: Fünfjah-
resplan und Menschenherz.12
Der Hinweis auf eine trotz ihrer russischen Herkunft umstandslos als „Wienerin“
etikettierte Autorin, die den „roten Alltag“ erlebe, vermittelt eine geschlechts-
spezifische Konnotation, die in besonderem Maße Neugier erwecken soll.
Denn Russlandberichte waren bis dato Männerdomäne. Unter den rund 100
deutschsprachigen Russlandreisenden, die Matthias Heeke bio-bibliographisch
erschlossen hat,13 finden sich gerade fünf Autorinnen für die Zeit bis 1933:
Anni
Geiger-Gog, Berta Lask, Frida Rubiner, Helene Stöcker und Martha Ruben-
Wolf. Aber deren Berichte bedeuteten von Sujet, Machart beziehungsweise
Zielansprache her keine Konkurrenz für Körber. Das gilt sowohl für Der große
Strom. Eine unromantische Wolgafahrt (1930) und die anderen, der KPD-Agi-
tation verpflichteten Texte von Frida Rubiner, die ebenso wie Körber im zaris-
tischen Russland geboren war und russisch sprach,14 als auch für Berta Lasks
zeitgleich mit Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag erschienenem Bericht
11 Der Anfang lautet in der Börsenblatt-Anzeige wie folgt:
„Eine junge Wienerin, die auf
ein Jahr in den ‚roten Betrieb‘ der Putilow-Traktorenwerke als Arbeiterin eingetreten
ist, schreibt ihre Erlebnisse auf. Aber was sie schreibt, wird mehr als persönliches
Bekenntnis und reicher als es eine objektive Darstellung des heutigen Leningrad sein
könnte.“ (Zit. nach: Lemke, Lili Körber, S. 81f.)
12 Klappentext zu:
Lili Körber:
Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuch-Roman
aus den Putilowwerken. Berlin: Rowohlt 1932. Zitate daraus werden mit der Sigle
[RA] samt Seitenzahl belegt.
13 Heeke, Reisen zu den Sowjets, S. 561–637.
14 Vgl. Walter Fähnders: Frida Rubiner. In: Neue Deutsche Biographie (NDB),
Bd. 22/2005, S. 157.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur