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Walter
Fähnders124
Entstehen begriffene Anbringung einer Fünfjahresplan-Parole wiedergibt: „Es
gibt Metall – der Erstling“.
Es handelt sich hier also um eine fotografische Covermontage, die ein wich-
tiges Rezeptionssignal aussendet, indem sie sich nicht nur als aktuelle, sondern
auch als unstrittig authentische, „wahre“ Momentaufnahme aus der Produk-
tion gibt. Diese Frage nach der Wahrheit und diesbezügliche Verfahren der
Authentifizierung und Verifizierung sind gerade eben im umkämpften Terrain
der Russlandberichte brisant. Die „unsichere Nachrichtenlage“ spielt dabei eine
Rolle, aber vor allem die ideologischen Grabenkämpfe: „Häufig thematisierten
die Berichte selbst die Unzuverlässigkeit der Informationen, die zu einem struk-
turierenden Topos im Diskurs über Sowjetrussland wurde“,17 so Eva Oberlos-
kamp. Das Cover erhebt also unmittelbaren Gegenwartsbezug und Anspruch
auf Authentizität, den auch der Titel herstellt:
Was eine Frau „erlebt“, sollte doch
authentisch sein, und wenn dies per Tagebuch geboten wird, also dem traditio-
nell weiblich konnotierten Medium, erst recht.
Dass im Untertitel freilich von Tagebuch-Roman die Rede ist, relativiert das
Authentische – ein literarhistorisch erklärbares Kalkül. Seit etwa 1930 nimmt
in der Weimarer Republik die Leselust am Dokumentarischen und an diesbe-
züglichen ästhetischen Strategien der sozusagen „kalten“ Neuen Sachlichkeit
zugunsten „wärmerer“ Ansätze erkennbar ab. Darauf reagiert Körbers pro-
grammatisches Mixtum von Faktualem und Fiktionalem:
Tagebuch-Roman. Das
Dokumentarische wird dabei keineswegs dementiert, denn es folgt empirisch
genau der Gegenwart der Leningrader Putilowwerke. Die traditionsreichen
Putilow-Traktoren-Werke, „Rußlands Krupp“, wie Egon Erwin Kisch sie 1927 in
Zaren. Popen. Bolschewiken genannt hat,18 dürften dem kundigen Leser um 1930
ein Begriff gewesen sein, sodass die Titelei den Hinweis auf Sowjetrussland sogar
aussparen kann. Im Text lässt sich die Protagonistin einmal die „Gedenkmappe“
geben, „die 1926 zum 125jährigen Jubiläum der Putilow-Werke veröffentlicht
wurde“ [RA 206]. Übrigens ist wenig später, 1933, ein weiteres Putilow-Buch
erschienen, und zwar von dem österreichischen Metallarbeiter Leo Weiden, der
mit viel Dokumentarmaterial angereicherte Bericht Turbinen Traktoren Stoß-
arbeiter. Skizzen aus dem Leben der Roten Putilow-Werke, Leningrad, von dem
noch die Rede sein wird.
Wenn schließlich, wie bereits zitiert, der Klappentext des Buches die Lese-
anreize spektakulär bündelt zu „Fünfjahresplan und Menschenherz“, so ist darin
17 Oberloskamp, Fremde neue Welten, S. 188f.
18 Egon Erwin Kisch: Zaren. Popen. Bolschewiken. Berlin: Rowohlt 1927, S. 95.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur