Seite - 126 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Walter
Fähnders126
Spaziergänge durch Leningrad, um Theaterbesuche. Ein Ausflug führt zur frühe-
ren Zarenresidenz Zarskoje Sjelo sowie zum zaristischen Peterhof.
In der bereits erwähnten Rezension preist Kracauer gerade die Fülle derarti-
ger „Beobachtungen“, wobei er besonders „die Darstellung des Fabrikmilieus aus
der Perspektive der Arbeiterin“ hervorhebt:
Man erhält hier wirklich einen inhaltlich erfüllten Begriff von den Veränderungen, die
seit Beginn des sozialistischen Aufbaus mit dem Alltag des russischen Proletariats vor
sich gegangen sind. Wie sich ein Dasein ohne materielle Existenzangst ausnimmt; wie
die Freizeit genutzt wird; wie Schichten, denen der Weg nach oben früher versperrt war,
jetzt durch die Ergreifung der staatlichen Macht in Bewegung kommen und ein gewal-
tiges Streben entwickeln – das alles tritt uns aus der Reportage sinnfällig entgegen.21
Kracauer also bescheinigt dem Buch Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit,
wofür Lili Körber auch vielschichtig operiert. Sie legt eine Vielzahl von Spu-
ren zur Beglaubigung ihrer tatsächlichen Existenz vor Ort: Sie wird etwa als
„ausländische Schriftstellerin“ [RA 84] „aus Österreich“ [RA 86] tituliert, hat
Zutritt zum exklusiven „Schriftstellerrestaurant“ und betätigt sich zu dieser
Zeit auch literarisch; notiert wird, dass sie für die (bis heute existierende) Zeit-
schrift Wokrug Swjeta (Vokrug sveta, deutsch etwa „Um die Welt herum“) eine
(bisher nicht ermittelte) Erzählung mit dem Titel General v. Lynch beehrt uns
geschrieben habe [RA 78]. Eine weitere Kurzgeschichte über den Selbstmord
eines Arbeitslosen stellt sie in Aussicht; dabei dürfte es sich um die zuerst 1927
in der Arbeiter-Zeitung erschienene Erzählung Der Schornsteinfeger handeln.22
Zuletzt ermuntern sie die Kolleginnen beim Abschied, sie möge zu Hause „ihr
Buch fertig schreiben“ [RA 231].
Als nicht anzuzweifelndes Beweisstück für ihre tatsächliche Arbeit im Betrieb
wird nach der Widmung des Buches an die „Putilowarbeiterinnen“ [RA 5] und
noch vor dem ersten Tagebucheintrag das namentlich auf Körber ausgestellte
Arbeitsbuch im Faksimiledruck, und zwar in russischem Original und deut-
scher Übersetzung, abgedruckt (siehe Abb. 2). Auch wenn sich bei Geburts-
und Ausstellungsdatum Ungereimtheiten eingeschlichen haben,23 so verbürgt,
genauer:
beansprucht dieses Faksimile wie der später gleichfalls im Original und
in Übersetzung abgedruckte Lohnzettel über 65 Rubel und 12 Kopeken [RA
21 S[iegfried] Kracauer: Aus dem roten Alltag. In: Frankfurter Zeitung (24.7.1932,
2. Morgenblatt), S. 5.
22 Lili Körber: Der Schornsteinfeger. In: Arbeiter-Zeitung (25.9.1927), S. 18f.; wieder
in: Pariser Tageszeitung (25.6.1936).
23 Lili Körber war 10 Jahre älter, die Tagebuchdatierungen stimmen nicht mit denen des
Arbeitsbuches überein.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur