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Lili Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag 129
sowie einer Technikgläubigkeit sondergleichen ausgerechnet im Kontext der
sozialistischen Arbeit.25 Annemarie Schwarzenbach, die 1934 zu Gast auf dem
sowjetischen Schriftstellerkongress dieses Jahres war, notierte: „Für uns hat der
enthusiastische Glaube an die Technik etwas Naives, weil wir ihr Desaster erlebt
haben; die Russen hingegen teilen mit den Amerikanern die primitive Freude an
der Maschine, am Tempo, am technischen Fortschritt.“26
Bei Lili Körber lautet der erste Tagebucheintrag:
1. Juli
So sieht also eine Sowjetwerkstatt aus.
Durch das gläserne Dach kommen ganz Bündel von Licht, die Kopftücher der Arbei-
terinnen glühen wie Lampione. Festbeleuchtung? Jawohl! Blanke Maschinen geben die
Spiegel ab und auch die Musik. Das ist ein Brausen um die Wette – so ein mächtiges
Orchester hat nicht einmal der Zar gehabt! Die Tänzer – schlanke Stähle – drehen sich
mit Blitzesschnelle, stampfen sich ins Eisen hinein, daß Metallfunken nur so aufsprü-
hen, schälen von den Blöcken und Hebeln mutwillig das braune Kleidchen herunter,
ihre glitzernden Silberkörper bloßlegend … […].
Gegen Mittag ist es als ob der Rhythmus beschleunigt würde – so wie gute Pferde
rascher laufen, wenn sie in der Nähe den Stall spüren. Aus der Montage kommt ein
Mädel mit ihrem Wägelchen, holt sich die fertigen Stücke
– der Wagen ist elektrisch, sie
steht vorn und kutschiert mit einer Stange, sieht aus, als fahre sie Karussell. Nun ja eben,
es ist ein Fest, und selbst an Konfetti fehlt es nicht
– da springt es in kleinen glänzenden
Stücken von den Werkbänken herunter. Ein Fest, ein richtiges Fest der Arbeit! [RA 9f.]
Vergleicht man diese Arbeitshymne mit dem bereits erwähnten, gleichzeitig
erschienenen Putilow-Bericht des österreichischen Metallarbeiters Leo Weiden,
so zeigt sich die besondere Literarizität bei Körbers Bemühen, die Utopie vom
„Fest der Arbeit“ ästhetisch zu bewältigen. Leo Weiden verfolgt eine erkenn-
bar andere Erzählstrategie, der es um das Informative, um das Objektive der
Arbeitszusammenhänge und nicht um deren subjektive Verarbeitung, geht.
Insofern braucht er auch keine ausladende Bildlichkeit, wenn er, wie er es nennt,
„die Intensität der Arbeit“ benennt. Das erste Kapitel, überschrieben „Die erste
Turbine“, beginnt wie folgt:
25 Vgl. ders.:
„Amerika“ und „Amerikanismus“ in deutschen Rußlandberichten der Wei-
marer Republik. In:
Wolfgang Asholt/Claude Leroy (Hgg.):
Die Blicke der Anderen.
Paris–Berlin–Moskau. Bielefeld: Aisthesis 2006 (= Reisen Texte Metropolen, Bd. 2),
S. 101–120.
26 Annemarie Schwarzenbach: Notizen zum Schriftstellerkongreß in Moskau.
In:
dies.:
Auf der Schattenseite. Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien
1933–1942. Hg. v.
Regina Dieterle u.
Roger Perret. Basel:
Lenos 21995 (= Ausgewählte
Werke, Bd. 3), S. 35–62, zit. S. 38.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur