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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Seite - 130 -
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Walter Fähnders130 Der Laufkran rollt Tag und Nacht auf seinen Schienen durch die große geräumige Halle. Keinen Augenblick stehen die Transmissionen still. Die mechanischen und die Schlos- serwerkstätten kennen keine Ruhe. Das Gedröhne und Gesurre setzt in der ganzen Abteilung nicht eine Sekunde aus. […] Zum 1.  Mai muß die erste Turbine des „Roten Putilowez“, die Maiturbine, fertig sein. Die Intensität der Arbeit wächst von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Ein beispiel- loser Enthusiasmus hat alle ergriffen und scheint auch in die Maschinen und Werk- bänke gedrungen zu sein. Ein Arbeitsenthusiasmus, den man erlebt haben muß, denn beschreiben läßt er sich kaum.27 Genau dieses aber unternimmt Lili Körber. Der letzte Tagebucheintrag beginnt mit dem Versuch, die Fülle von Erfahrungen zu synthetisieren und im Abschied zu bewahren: Lebt wohl! Lebt wohl! Mein schönes Eisen, ihr Traktoren, du Parteikomitee mit dem kleinen Nowikow, Walja, Warja, Kolka, Subinski, du Bohrer, du Reibahle, ihr Hebel, Werkbanklärm, Ölgeruch, du Schmiede mit Nikola und Mischka, Gießerei, Montage, Färberei, Schleiferei, alte Traktor-Mechanische, Thermische, Reparatur- und Hilfsrepa- raturwerkstatt! Schlüssel zum Eimerlager! Metallzylinder, mit dem man die Bohrung ausprobiert und die der Meister Kegel nennt! […] Junger froher Nachwuchs, ihr Mädels mit den roten Kopftüchern, Kultur- und Parteiarbeiter, lebt wohl! [RA  236] Diese Reihung aus Personenanruf, Allegorie, neusachlich-technischem Fach- jargon und politischen Pathosformeln verrät den Versuch, die sowjetische Erfahrung in einer expressiven Montage zusammenzuzwingen. Dass die alte Liebesbeziehung gescheitert ist und die neue nicht gelingen kann, scheint hier keiner Erwähnung wert und somit keine Rolle mehr zu spielen. Im Kontext der Selbstbilder, die Autorinnen Ende der zwanziger Jahre von sich und der Rolle der Frau entworfen haben,28 markiert diese Entscheidung Selbstständigkeit und Selbstbestimmung im Geschlechterdiskurs. Im politischen Diskurs ist es eine Entscheidung für den sowjetischen Weg einer neuen Arbeit:  einer Arbeit als Fest, wie es eher utopisch denn apologetisch und fast fourieristisch anmutend hieß. Effektvoll endet das Buch mit einem „aus einer alten Wandzeitung“ zitier- ten Arbeitslied, das von einem Putilow-Arbeiter stammt: 27 Leo Weiden:  Turbinen Traktoren Stoßarbeiter. Skizzen aus dem Leben der Roten Putilow-Werke, Leningrad. Anhang:  Rechenschaftsbericht der Arbeiter, Ingenieure und Techniker der Leningrader Roten Putilow-Werke. Moskau-Leningrad:  Verlags- genossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR 1933, S.  7. Es wäre lohnend, die Russland-Berichte österreichischer Arbeiter zu ermitteln und auszuwerten. 28 Vgl. Helga Karrenbrock:  „Das Heraustreten der Frau aus dem Bild des Mannes“. Zum Selbstverständnis schreibender Frauen in den Zwanziger Jahren. In:  Fähnders/ Karrenbrock, Autorinnen der Weimarer Republik, S.  21–38.
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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Titel
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Untertitel
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Autor
Primus-Heinz Kucher
Herausgeber
Rebecca Unterberger
Datum
2019
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-631-78199-9
Abmessungen
14.8 x 21.0 cm
Seiten
466
Kategorie
Kunst und Kultur
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