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Ievgeniia
Voloshchuk134
entstand Roths umfangreiche Reportagenreihe „Reise in Rußland“ (1926), die
als eines der prägnantesten Porträts des jungen Sowjetrusslands anzusehen ist.3
Dieses literarisch-journalistische Projekt lag ganz im Trend der Zwischen-
kriegszeit, da das damalige Europa und insbesondere die Weimarer Republik
eine Konjunktur der Reisen in die Sowjetunion erlebten. Angeregt durch ihre
eigene Neugier, das brennende Interesse der Öffentlichkeit und nicht zuletzt
durch die utopischen Energien der Epoche, strömten viele westliche Intellektuelle
in das bolschewistische Land, das im Mittelpunkt heftiger politischer Diskussio-
nen stand. Aus den schriftlichen Zeugnissen dieser Intellektuellen hat sich eine
bunt schillernde Bibliothek ergeben, zu der auch die Texte von Herbert Wells,
Alfons Paquet, Alfons Goldschmidt, Arthur Holitscher, René Étiemble, Franz
Jung, Walter Benjamin, Egon Erwin Kisch, Franz Carl Weiskopf, Ernst Toller,
Armin Theophil Wegner, Heinrich Vogeler, Hans Siemsen, Stefan Zweig, Oskar
Maria Graf, André Gide, Lion Feuchtwanger, Lili Körber4 oder René Fülöp-Mil-
ler5 und vielen anderen gehören. Verlockend war das nachrevolutionäre Russ-
land, wie man dieser Liste entnehmen kann, in erster Linie für die Linken, aber
auch für bürgerliche Autoren wie Paquet und Zweig. Die Anziehungskraft des
„Oktobers weltweiten Zaubers“6 (François Furet) bewog viele von ihnen, in der
Sowjetunion nach dem kommunistischen „gelobten Land“ zu suchen und das
von der bolschewistischen Revolution proklamierte Programm der Erneue-
rung von Mensch und Gesellschaft enthusiastisch zu begrüßen. Texte dieser Art
machen sogar, glaubt man Jacques Derrida, ein spezifisches Genre
– nämlich die
„Reisen in die Sowjetunion“ – aus, das sich als eine Kombination von „Pilger-
fahrt nach dem Heiligen Land“, Zeugenberichten und Autobiografie beschreiben
lässt.7 Kennzeichnend dafür sind die uneingeschränkte Anerkennung kommu-
nistischer Ideale, die Gleichsetzung der Reisen in die Sowjetunion mit der Idee
(Hgg.): Erzählte Mobilität im östlichen Europa. (Post-)Imperiale Räume zwischen
Erfahrung und Imagination. Tübingen: Francke 2014, S. 43–58, zit. S. 43f.
3 Vgl. dazu: Alexander W. Belobratow: Joseph Roth in Russland und Russland bei
Joseph Roth. In: Manfred Müller/Larissa Cybenko (Hgg.): Reise in die Nachbar-
schaft. Zur Wirkungsgeschichte der deutschsprachigen Literatur aus der Bukowina
und Galizien nach 1918. Wien–Berlin–Münster: Lit 2009, S. 109–133.
4 S. dazu den Beitrag von Walter Fähnders.
5 S. dazu den Beitrag von Katja Plachov.
6 François Furet:
Das Ende der Illusion:
der Kommunismus im 20 Jahrhundert. Mün-
chen: Piper 1998, S. 151ff.
7 Жак Деррида: Back from Moscow, in the USSR. In: Жак Деррида/Михаил
Рыклин: Жак Деррида в Москве: Деконструкция путешествия [Jacques Der-
rida: Back from Moscow, in the USSR. In: ders./Michail Ryklin: Jacques Derrida w
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur