Seite - 136 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Ievgeniia
Voloshchuk136
Seele zu erkennen glaubte,11 war Roth mit russischen Realien und Phantasien
relativ gut vertraut. Mehr noch: Als ehemaliger Untertan des Habsburgischen
Imperiums, das mit dem Russischen Zarenreich in zum Teil scharfer Konkur-
renz gestanden war und sich stets ideologisch mit ihm gerieben hatte,12 war
er daran gewöhnt, die russische Wirklichkeit kritisch zu betrachten, zwischen
ihrem Schein und ihrem Sein zu unterscheiden.
Unter diesen Prämissen hat Roths literarisches UdSSR-Projekt die Konturen
einer grundsätzlichen Revision des neuen Russlands durch die kritische Analyse
des sozialistischen Alltags, vor allem des sozialen, kulturellen und Privatlebens
des Sowjetmenschen im ersten nachrevolutionären Jahrzehnt angenommen.
Gerade durch die journalistische Untersuchung dieses Bereiches, und nicht
durch die unmittelbare Auseinandersetzung mit der damaligen sowjetischen
politischen Landschaft, demontiert Roth sowohl die kommunistische Theorie als
auch die Praxis des sozialistischen Aufbaus. Der wichtigste Punkt seiner Kritik
sind nämlich die Differenzen und die sich auftuenden Klüfte zwischen der sow-
jetischen Realität und den Mythen der bolschewistischen Propaganda, die dem
neuen Bild Russlands einen Glanz realisierbarer beziehungsweise sich schon
entfaltender Utopie verleihen sollen. Dabei werden die Kontraste zwischen dem
ideologischen Diskurs und dem tatsächlichen sowjetischen Alltagsleben, gese-
hen aus der „privaten“ Perspektive eines angeblich „neutralen“ Beobachters,
dekuvriert, indem dieser sein Urteil über die „schöne neue Welt“13 nicht mit den
modernen politischen Doktrinen, sondern mit dem traditionellen europäischen
humanistischen Wertesystem, das seinem politischen Liberalismus zugrunde
liegt, begründet. Diese generelle Absicht prägt die Komposition des Reportage-
zyklus, der neben typischen Reiseberichten oder analytischen Essays auch kleine
eingefügte Novellen oder spontan entstandene Skizzen beinhaltet und zu einer
konsequenten Narration mit Vor- und Nachspiel, eigener Entwicklungslogik und
dem ganzen Komplex von Leitmotiven, Symbolen und Metaphern stilisiert wird.
11 Stefan Zweig: Joseph Roth. In: ders.: Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge
aus den Jahren 1902–1942. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1990, S. 325–339, zit. S. 326.
12 Ausführlicher vgl. Klemens Kaps:
Galizische Modernisierungsdiskurse zwischen Sub-
alternität und Dominanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Alexander
Kratochvil u.a. (Hgg.):
Kulturgrenzen in postimperialen Räumen. Bosnien und West-
ukraine als transkulturelle Regionen. Bielefeld: transcript 2013, S. 33–60.
13 So der Titel des bekannten dystopischen Romans von Aldous Huxley, im englischen
Original Brave New World (1932).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur