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Ievgeniia
Voloshchuk138
zu den europäischen Klischeevorstellungen von den Russen […]. Europa kannte die
Kosaken aus dem Variete, die russischen Bauernhochzeiten aus opernhaften Bühnen-
szenen, die russischen Sänger und die Balalaikas. Es erfuhr (auch nachdem Rußland zu
uns gekommen war) niemals, wie sehr französische Romanciers – die konservativsten
der Welt – und sentimentale Dostojewski-Leser den russischen Menschen umgelogen
hatten zu einer kitschigen Gestalt aus Göttlichkeit und Bestialität, Alkohol und Philo-
sophie, Samowarstimmung und Asiatismus […]. Je länger die Emigration dauerte, desto
näher kamen die Russen der Vorstellung, die man sich von ihnen gemacht hatte.16
Zwar hat die erste postrevolutionäre Emigrationswelle eine ganze Plejade bedeu-
tender russischer Denker und Künstler in ihrem Sog mitgezogen, doch nivelliert
Roth die Figuren der Vertriebenen der Oktoberrevolution in einem karikatur-
haften kollektiven Porträt der durch Ressentiment und Nostalgie verkrüppelten
Stiefkinder der großen Geschichte. Wie Gespenster des untergegangenen Zaren-
reiches spuken sie „mit krummen Türkensäbeln, die auf dem Flohmarkt […]
erworben waren“, in „großen Bärenmützen aus echten Katzenfellen“ [RW 591]
herum. Wie lebendige Anachronismen speisen sie sich aus ihren obsessiven
Erinnerungen an das ehemalige Russland, die mit dem realen Land schon lange
nichts mehr zu tun haben. Wie die vom Baum abgefallenen Blätter lassen sie sich
durch Europa treiben, ohne Hoffnung, in die Heimat jemals zurückzukehren,
und unbefähigt, in der Fremde Wurzeln zu schlagen. Indem sie, Roth zufolge,
ihren Adel, ihr Russentum, ja selbst ihr tragisches Schicksal im Exil verpulvert
haben, sind sie zur Selbstparodie und somit zum lebendigen Beweis für die kit-
schigsten westeuropäischen Russen-Stereotype geworden [RW 591].17
Das Porträt der zaristischen Emigranten, die das alte Russland verkörpern,
bildet eine symbolische Präambel zur Beschreibung des neuen Russlands, in des-
sen Bild der Schriftsteller dieselben Elemente von Kitsch, trügerischem Glanz,
gespensterhafter Existenz, gefälschter Europäizität und getarntem Asiatentum
integriert. Dadurch wird in Roths Narrativ jene Kluft überbrückt, die nach dem
Epochenumbruch das zaristische Russland und die bolschewistische Sowjet-
union zu trennen scheint. Dieser Zusammenhang wird im nächsten Artikel
deutlich, in dem Roth von seinem Übertritt der sowjetischen Grenze berichtet.
Hier taucht eine westliche Grenzübertrittsstelle auf: das weißrussische Dorf mit
16 Zitiert wird nach der Ausgabe: Joseph Roth: Reise in Rußland. In: ders., Das jour-
nalistische Werk 1924–1928, S. 591–699, zit. S. 591. Fortan wird die Sigle [RW] im
Fließtext verwendet.
17 Zu Russland-Stereotypen vgl. Hans-Henning Schröder: „Tiefste Barbarei“, „höchste
Civilisation“. Stereotypen im deutschen Russlandbild. In: Osteuropa, Nr. 10/2010,
S. 83–100.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur