Seite - 139 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 139
dem exemplarischen Namen Njegoreloje (wörtlich: „ungebrannt“), das weniger
durch die Roth’sche, vielmehr durch eine historische Sinnbildlichkeit den Brand-
geruch der Katastrophen, Revolutionen und Kriege erahnen lässt.
Die Grenzstelle in Njegoreloje fokussiert sich im Bild des düsteren braunen,
mit Holz verkleideten Saals, der den europäischen Ankömmling aufgrund der
unbehaglichen Ordnung, der Eintönigkeit der Uniformen und der heuchlerischen
Bürokratie verblüfft. Auf Schritt und Tritt spürt der Gast eine Bedrohung, die ihm
Vernichtung oder wenigstens Demütigung verspricht. Ihm wird der Pass und
damit die Identität ab- beziehungsweise weggenommen, sodass er Gefahr läuft, im
Chaos der Grenze mit jemand anderem verwechselt zu werden. Er wird von den
gegen jede Kontrolle immunen Diplomaten abgesondert und fühlt sich dadurch zu
einem Menschen zweiter Klasse, womöglich nur zum Begleiter seines eigenen Kof-
fers heruntergestuft. Er sieht, wie die grobe Hand eines Beamten Spielsachen und
Damenkleider aus dem inspizierten Gepäck herausfischt und schaudert vor deren
Devaluation unter dem Blick eines den Luxus verachtenden Prüfers, aber auch vor
der Gebrechlichkeit jeglichen Privatlebens angesichts der Staatsgewalt. Grauener-
regend wirken auf ihn sogar die eckigen Buchstaben in den Plakataufschriften, die
geschliffenen Beilen ähneln.
Das bedeutet etwas mehr als eine banale Grenzneurose, die in der Zeit der
Weltkriege und Revolutionen zu einer Alltagserfahrung geworden ist. Hier geht
es vor allem um einen traumatischen Eintritt in die andere Welt, die zwar noch
hinter dem Schleier der nasskalten russischen Nacht verborgen bleibt, doch in
jedem Detail gegenwärtig ist. Diese Welt ist dem Europäer völlig fremd und in
mancherlei Hinsicht ihm gegenüber sogar feindselig. Zugleich steht sie dem
Roth’schen Bild des Russischen Zarenreichs nahe, dessen Wesensmerkmale
zivilisatorische und kulturelle Rückständigkeit, verwerflicher Byzantinismus,
despotische Macht sowie die unifizierten und jedweder Rechte beraubten Völ-
kermassen sind. In diesem „nicht-europäischen“ und „halb-asiatischen“ Staat
sieht Roth das Gegenstück zum „echt europäischen“ Habsburgerreich, das er spä-
ter als Ideal eines liberalen, toleranten, humanen Imperiums rühmen und zum
Vorbild für ein zukünftiges Europa erheben wird.18 Dass die Sowjetunion, allen
18 Vgl. u.a. Joseph Roth: Lemberg in Düsseldorf. In: ders.: Das journalistische Werk
1915–1923. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 1. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989,
S. 1084–1086; ders.: Munkacs, die brave Stadt. In: ders.: Das journalistische Werk
1929–1939. Hg. v. Klaus Westermann. Bd. 3. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1991,
S. 869–870; ders.: Huldigung an den Geist Österreichs. In: ebd., S. 792–795;
ders.:
Totenmesse. In:
ebd., S.
795–798; ders.:
Vae Victis. In:
ebd., S.
802; ders.:
Heute
früh kam ein Brief. In: ders.: Romane und Erzählungen 1916–1929. Hg. v. Fritz
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur