Seite - 147 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Die „schöne neue Welt“ in Roths „Reise in Rußland“ 147
Endeffekt bloß Objekte für ideologische Manipulationen produziere. Hinter der
roten Hochglanzfassade des Sowjetstaates sieht er das Grau und das Grauen der
entprivatisierten Existenz, die der Ideologie des Aufbaus der „schönen neuen
Welt“ restlos unterworfen ist. Sogar im trivialen Alltagsleben stößt Roths Erzäh-
ler auf tendenziell Kurioses:
Einmal ist es ein Ziegenbock, der den Eingang zum
modernen Hotel blockiert, dann die Serviette, gefertigt aus Einschlagpapier, ein
anderes Mal die europaweit besten Busse, die auf dem weltweit schlechtesten
Pflaster dahinrollen.
Konsequenterweise entwickelt sich in der Reportagenreihe das Motiv des
Illusorischen, Phantomhaften oder Scheinbaren. Wie Gespenster aus der Ver-
gangenheit erscheinen neben den zaristischen Emigranten die im nachrevolu-
tionären Russland übrig gebliebenen Vertreter der vorrevolutionären Welt: die
ehemaligen Bourgeois, die altmodischen liberalen Intellektuellen und nicht
zuletzt die alten Bolschewisten oder „Helden der Revolution“. Gespenstisch
wirken aber auch die Repräsentanten der neuen Welt: Männer ohne individu-
elle Freiheit, Frauen ohne erotischen Reiz, Kinder ohne Phantasie. Diese Bilder
sind für Roth die großen und kleinen Beweise für das vollständige Scheitern
der bolschewistischen Revolutionsidee, die seines Erachtens die Kluft zwischen
Russland und Westeuropa nur noch vertieft hat. Die versprochene „schöne neue
Welt“ hat sie nicht zu etablieren vermocht, ist stattdessen zum platten sowjeti-
schen Biedermeier, etwa in Form von Tintenfässern mit Lenin-Porträts oder von
mit Lassalle-Porträts geschmückten Kaviarbüchsen, verkommen. Den infolge
dieser Revolution gegründeten Staat tut Roth als Land der gescheiterten Hoff-
nungen ab, das unter dem falschen Glanz das wahre Elend und hinter der Maske
des Ideenfanatismus seine historische Niederlage verberge. Im Tagebuch, das
Roth während der sowjetischen Reise geführt hat, formuliert er sein schonungs-
loses Urteil über das bolschewistische Experiment wie folgt:
Ich habe mich endgültig vom Osten losgesagt. Wir haben nichts von ihm zu erwarten,
als eine Blutauffrischung, eine Muskelerneuerung, eine Lyrik vielleicht und eine Berei-
cherung der Traumwelt – keineswegs Gedanken, Tag, geistige Kraft und Helligkeit. Das
Licht kommt vielleicht vom Osten, aber Tag ist nur im Westen. Zwischen der franzö-
sischen und der russischen Revolution ist ein Unterschied wie zwischen Voltaire und
Bucharin, zwischen Katholizismus und Byzantinismus, zwischen Paris und Moskau[.]
[RW 1019]
Offensichtlich entwirft Roth aus seiner kulturskeptischen Perspektive ein teils
tendenziöses, teils karikaturhaftes Russland-Bild, in dem Erfolge der frühen
UdSSR in den Bereichen Wirtschaft, Sozialleben, Wissenschaft oder Kunst kei-
nerlei Niederschlag finden.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur