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Deutungsmuster in Fülöp-Millers Reportage von 1926 159
Rede gestellt. Aufgrund der damaligen Bildeuphorie – Furler verweist hier auf
die Rolle der neuen Massenillustrierten in den 1920ern – sei die Authentizität
von Abbildungen kaum angezweifelt worden,33 obgleich John Heartfield mit sei-
nen Fotomontagen in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung sehr wohl das Manipula-
tionspotential von Abbildungen aufzeigt hat, und sich auch Siegfried Kracauer,
Bertolt Brecht und Walter Benjamin kritisch mit der wahrnehmungssteuern-
den Wirkung der „photographische[n] Konstruktion[en]“ auseinandergesetzt
haben.34
2.2 Erstes Kapitel: Der kollektive Mensch
Eine alte Volkslegende, die lange vor der Revolution schon unter den russischen Bauern
verbreitet gewesen, kündet das Herannahen einer Zeit, da das „Tier ohne Namen“ die
Herrschaft über Rußland antreten werde, jenes Tier, das darum namenlos sei, weil es
aus unzählbaren Vielen bestehen werde. Nun ist es da, […] und hat sein Reich aufge-
richtet: die unpersönliche Masse ist der Herr über Rußland, sie ist die wichtigste neue
Erscheinung, welche der Bolschewismus vorgebracht hat[.] [GG 1]
Die zu Beginn des Kapitels bemühte Metaphorik einer tierähnlichen Masse, die
im heutigen Russland herrsche, verdichtet sich im Verbund mit dem Rekurs
auf eine nicht näher ausgeführte Volkslegende zu einem bedrohlichen Szena-
rium: Ein neuer Menschentypus ist durch die Abschaffung seiner inneren Seele
entstanden [vgl. GG 2ff.,
14]. Mit Blick auf die äußere Erscheinung dieses „Mas-
sewesens“ entwirft Fülöp-Miller eine surreal anmutende, endzeitliche Prognose
für Sowjetrussland: Der Einzelne werde durch den Kollektivkörper, der einem
Urtier gleiche [vgl. GG 3], vereinnahmt und damit ausgelöscht. „Unwillkürlich
muß man sich fragen, ob dieser ‚Massemensch‘ wohl auch einmal über das orga-
nisierte Gehen und Brüllen, über das Losschlagen hinaus, ein höheres Wesen
zu werden verspreche, ob er wirklich dazu bestimmt sei, neue Werte in die
Geschichte zu tragen.“ [GG 4]
33 In Bezug auf die Fotografie der Zwischenkriegszeit hebt Furler die Rolle der Mas-
senillustrierten hervor, wo Abbildungen bis Ende der 1920er Jahre durch ihren
„[p] rägenden Einfluß auf die Gestaltung moderner Illustrierten“ durch das Abbil-
dungsprinzip „des Schocks und der Sensation“ Millionenauflagen verzeichneten (vgl.
ebd., S.
57).
34 Ebd., S.
58.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur