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Deutungsmuster in Fülöp-Millers Reportage von 1926 165
Im Gegensatz zu den oben exemplarisch angeführten, in der Tendenz abwer-
tenden Ausführungen zu Tatlin wird Mejerchol’d tatsächlich „echte künstlerische
Befähigung und produktive Kraft“ bescheinigt
– als einem der wenigen Künstler,
deren Produkte, so Fülöp-Miller, „auch in ihren extremsten Phasen und selbst
in den gelegentlichen Verirrungen […] immer wieder eine unleugbare starke
Individualität“ vorweisen [GG 165–167]. Eine dichotomische Wertung wird hier
fortgeschrieben:
Die positive Konnotierung von „Individualität“ ist das logische
Andere zu der als bedrohlich wahrgenommenen „Masse“ und spiegelt damit
den vorherrschenden Diskurs in den aufkommenden Sozialwissenschaften zu
Beginn des 20. Jahrhunderts wieder.48
Ein in dieser Sektion von Fülöp-Miller außerdem selektiertes Phänomen ist
das jüdisch-russische Ensemble Habima,49 bei dem sich eine Traditionslinie
russischer Schauspielkunst erhalten habe, „die einem religiösen Kult der Seele
nahekommt und die eingeführt zu haben das Verdienst Stanislawskis bildet“
[GG 162–165]. Insbesondere dieser Glaube an eine „russische Kunstreligiösi-
tät“ und an eine „wunderwirkende Rolle des Theaters“ ist im deutschsprachigen
Raum als politische Projektionsfläche populär gewesen und bereits von sozial-
demokratisch orientierten Autoren vermittelt worden.50 Fülöp-Miller liefert hier
jedoch lediglich eine detaillierte Beschreibung von Schauspiel- und Auffüh-
rungsverfahren der Truppe und verzichtet auf politische Aufladungen. Die Ver-
öffentlichung von Geist und Gesicht fiel zeitlich mit den Gastspielen der Habima
in München und Wien51 zusammen, wodurch unter Kulturinteressierten sicher-
lich beide Ereignisse an Auftrieb gewannen, da die Theatergruppe mit „unglaub-
licher Begeisterung“ vom deutschsprachigen Publikum begrüßt wurde.52
Mithilfe der oben genannten theoretischen Perspektive, Fülöp-Miller als
Akteur zu verstehen, der auch aufgrund pragmatischer Interessen bestimmte
Vorstellungen über die Sowjetunion geformt und transferiert hat, wird anhand
48 Vgl. Michael Gamper: Masse lesen, Masse Schreiben. Eine Diskurs- und Imagina-
tionsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930. München: Wilhelm Fink 2007,
S. 27f.
49 Vgl. Shelly Zer-Zion: Habima. Eine hebräische Bühne in der Weimarer Republik.
Paderborn: Wilhelm Fink 2016.
50 Vgl. Koljasin, Theater, S. 710.
51 Vgl. ebd., S. 726; Julia Köstenberger: Österreichisch-sowjetische Kulturbeziehun-
gen: Liste der wichtigsten Veranstaltungen/„Österreichische Gesellschaft zur För-
derung der geistigen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der UdSSR“. In: Moritz,
Gegenwelten, S. 463.
52 Vgl. Koljasin, Theater, S. 726.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur