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Gregors Sowjetreise und Das russische Theater 195
und Verfahrensweisen, als einen Raum, der mit externen Einflüssen umzugehen
gezwungen ist. Ost-West-Dichotomien und, damit in Zusammenhang stehend,
die in der Kulturwissenschaft im Allgemeinen, im Topos des „Petersburger Tex-
tes“ im Speziellen immer wieder diskutierten Fragestellungen von Reperkussion
des Auslandes, Autochthonie, Eigenem etc. finden sich auch bei Gregor.52
Bezeichnend für Gregors unorthodoxen Zugang scheint seine kühne Ablei-
tung der theatralen Formensprache aus der Bildenden Kunst53 ebenso wie
die – durchaus den Anschein eines Prokrustesbetts erweckende – Fassung des
russischen Theaters unter den Ausformungen des Symbolbegriffs. Denkt man
allerdings an die Hochkonjunktur des Symbol- und Allegoriebegriffs zu jener
Zeit, stand Gregor damit jedoch keinesfalls allein. Ein ‚barocker Blick‘ war auch
den angegrauten Vertretern der Wiener Moderne in der Zwischenkriegszeit kei-
neswegs fremd. Im Gegensatz zu diesen überrascht der Konnex von barockem
und Revolutionstheater, wenn sich der (auch) Barockforscher Gregor mit dem
‚Barocken‘ des sowjetischen Theaters auseinandersetzt: Das Revolutionsthea-
ter als endlos laufende Maschine mit Motoren als Allegorie, das die Revolution
„im Bilde endlos“ fortsetzen könne, ähnle dem spanischen Jesuitendrama des
17. Jahrhunderts.54 Sowjetunion trifft Jesuitenstaat, Gregor trifft sich über den
Umweg des Theaters mit einigen anderen bürgerlichen Interpreten der Sowjet-
union, nicht zuletzt mit seinem Co-Autor.55
52 Vgl. z.B. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der rus-
sischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990; Maria Deppermann: Mythos
Petersburg. Agonie der Moderne oder postmoderne Konstellation? In: Heiko Hau-
mann/Stefan Plaggenborg (Hgg.): Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat.
Rußland in der Spätphase des Zarenreiches. München u.a.: Lang 1994, S. 318–352.
53 Dies betonten auch einige Rezensenten; vgl. z.B. O. F.: J. Gregor und Fülöp-Miller/
Das russische Theater. In: Das Nationaltheater, H. 5/1930, S. 396.
54 Vgl. Gastspiel Moskauer Künstlertheater, Typoskript, Theatermuseum, Wien HS_VM
2742 Gr.
55 Damit wäre auch zu hinterfragen, ob die strikte Trennung in einen ‚restaurativen‘,
auf die österreichische Tradition des Barock bezogenen Gregor und einen sozusagen
‚modernen‘, der sich beispielsweise für das sowjetische Avantgardetheater interessiert,
aufrechtzuerhalten ist.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur