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Barbara
Lesák202
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war auch das russische Theater von der enor-
men Erneuerungswelle des naturalistischen Theaters erfasst worden, das nicht ohne
Grund in Frankreich 1887 im Théâtre Libre des André Antoine seinen Ausgang
genommen hatte, dem Land, wo die Fotografie – die Verkörperung des Naturalis-
mus- beziehungsweise Realismus-Prinzips11 schlechthin – erfunden worden war.
Wie das französische und das deutsche naturalistische Theater einen genau regist-
rierenden und dokumentierenden Blick gleich einer nichts beschönigenden, objek-
tiv aufnehmenden Fotolinse auf soziale und gesellschaftliche Missstände warf, war
Stanislavskij darauf aus, durch seine Regie wie auch in seinem Spiel die mensch-
liche Psyche aufzudecken, sie freizulegen, indem er den gesellschaftlichen Überbau
demontierte und zum Inneren der Menschen-Figur vorstieß – aber das mit einer
unglaublichen, am realen Leben abgeschauten Genauigkeit. Dabei wurde er konge-
nial von Anton Čechov, sozusagen seinem Hausdramatiker, der ihm seine Stücke
anvertraute, unterstützt.
Für die europäische und die nordamerikanische Theaterentwicklung, aber
auch für den Film12 sollte das 1898 von Konstantin Stanislavskij gemeinsam mit
Vladimir Ivanovič Nemirovič-Dančenko gegründete Moskauer Künstlertheater,
in dem das Stanislavskij-System bis zur höchsten Perfektion ausgeführt wurde,
eine große Vorbild-Rolle einnehmen. Durch Stanislavskijs subtile Verfeinerung
des Realismus-Prinzips mithilfe seiner die neuen Erkenntnisse der Psychologie
miteinbeziehenden Spielinterpretation und Spieltechnik überlebte das naturalis-
tische beziehungsweise realistische Theater alle Anfechtungen durch moderne
Reformbewegungen. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass viele
bedeutende Theaterkünstler des westlichen Europas die Begegnung mit Sta-
nislavskijs Künstlertheater suchten, um seine Methoden kennenzulernen, auch
wenn sie keine Naturalisten waren. Das gilt zum Beispiel für den englischen
Bühnenreformator Gordon Craig, der 1911 sein abstraktes Dekorationssystem
(flächige, monochrome Screens) am Künstlertheater im Zusammenhang mit
einer von Stanislavskij inszenierten Hamlet-Aufführung realisieren konnte, oder
für Maurice Maeterlinck, der sein 1908 erschienenes Märchendrama Der blaue
11 Mithilfe der Fotografie konnten bereits im 19. Jahrhundert Mimik und Gebärden
kanonisiert werden und als Vademekum für Schauspieler wie auch Künstler dienen
(vgl. Carl Michel:
Die Gebärdensprache dargestellt für Schauspieler, Maler und Bild-
hauer, mit 94 Darstellungen von Nicola Tonger. Köln 1886).
12 Etwa die französische „Cinéma vérité“-Bewegung oder der italienische Neorealismus
im Film; auch das „method acting“ des amerikanischen Regisseurs Lee Strasberg, der
sich ausdrücklich auf Stanislavskij berief, gehört dazu.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur