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Barbara
Lesák204
Abenden hintereinander gespielt wurden, und Knut Hamsuns An des Reiches
Pforten (20. April) sowie ein „Literarischer Abend“ (21. April), der aus Einaktern
sowie Rezitationen aus Novellen, Gedichten und Dramen zusammengefügt war,
die einen weiten Bogen von Shakespeare über Čechov, Rabindranath Tagore und
Leonid Andreev bis hin zu Salomons Schriften umspannten. Musils Zweifel, ob
die in den Westen versprengte Truppe imstande sei, auch den Originalton Sta-
nislavskijs zu generieren, waren nach dem ersten Theaterabend ausgeräumt. Er
war seiner eigenen Schilderung nach zugleich „erschüttert“ wie auch „beglückt“.
Dennoch kühlen Kopf bewahrend analysierte er die Arbeits- und Wirkungsweise
dieses „Dichtertheaters“, wie er es nannte, und stellte es hoch über das in Europa
vorherrschende „Schauspieler- und Regietheater“. Für den Schriftsteller und
Theaterkritiker Musil war das Künstlertheater nicht eine bloß exotische Ausnah-
meerscheinung, sondern das Modell für den einzig möglichen, das zukünftige
Überleben des Theaters garantierenden Theaterstil. „Was die Moskauer spielen“,
schrieb Musil, „ist nicht Realismus, sondern es ist das Bühnenwerk als Kunst-
werk, und es ist eben deshalb nicht russisch, sondern Europa“.17 Auch in den
Theaterkritiken der Neuen Freien Presse wurde dem ungemein lyrischen Realis-
mus des Künstlertheaters Anerkennung gezollt. In dem langen Essay ihres Thea-
terkritikers Paul Wertheimer, der als Epilog zum russischen Gastspiel erschienen
ist, kommen diese Werte zum Ausdruck:
Diese junge russischen psychologischen Dichter und die jungen psychologischen
Schauspieler – worin liegt ihr Gemeinsames und ihr Geheimnis? Sie haben die Kraft,
sich von der Welt abzuscheiden, die Quellen in sich zu sammeln, sich zu verdichten,
und […] sie sind vom Wort zum Menschen vorgeschritten; sie vertiefen unsere Kennt-
nis vom Menschen[.]
18
Im Herbst 1921 kamen die „Moskauer“ unter Leitung Kačalovs erneut nach
Wien und zeigten im Wiener Stadttheater vom 20. Oktober bis zum 14.
November neben Wiederholungen mancher bereits im Frühjahr gespielter
Werke auch andere Stücke russischer beziehungsweise nichtrussischer Drama-
tiker: die Komödie Jede Weisheit hat ihren Haken von Aleksandr N. Ostrovs-
kij und das Melodram Herbstreigen von Il’ja Dmitrievič Surgučёv sowie einen
verfolgt den Zweck, dem Zuschauer das ganze Problem zu erleichtern, ihm in einem
möglichst kurzen Auszuge die dem ersten Akt vorangehenden Ereignisse vorzuzeigen
…“ (s. das Exemplar im Programmarchiv des Theatermuseums Wien, o.S.).
17 Robert Musil: Nachwort zum Moskauer Künstlertheater [25. November 1921].
In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 1526.
18 Paul Wertheimer: Das Geheimnis der Russen. (Epilog zum russischen Gastspiel.)
In: Neue Freie Presse (30.04.1924), S. 1–3, zit. S. 3.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur