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Gastspiele sowjetischer Theatertruppen in Wien 219
Kritik. In Granovskijs sehr freier Deutung wurde eine musikalisch rasant insze-
nierte Verspottung der jiddischen Kleinbürgerlichkeit dargeboten. Emil Kläger
etwa kam gar nicht dazu, all die Bewegungselemente in dieser Inszenierung zu
schildern, die ihn und sichtlich auch das Publikum begeisterten:
Die Augen müssen diesmal sehr eilig sein, um kein Gestenspiel, keine Akrobatik eines
Mitwirkenden zu versäumen, die nicht nur aus dem Bühnenparterre „arbeiten“, sondern
auch auf riesigen Leitern, auf Andeutungen von Dächern […][.] Dabei nicht zu über-
sehen, daß Herr Michoels, einer der Hauptstars der Truppe, gewöhnlich der Träger der
wichtigsten tragisch-grotesken Figur, plötzlich im Handstand ein Rad schlägt.45
Wie raffiniert Granovskij mit seinem Bühnenbildner Rabinovič arbeitete,
zeigt eine Beobachtung Klägers, die beschreibt, wie er „Menschen förmlich
in den Raum hing, wobei deren Kostüme die mangelnden Farben zu erstellen
haben […] in den sonst leeren und nackten fünf Stockwerken der Bühne“.46
Das Raffinierte, Ausgeklügelte und Spöttische in Granovskijs Inszenierun-
gen blieb jedoch nicht ohne Kritik und wieder war es Kläger, der resümieren
sollte: „Es ist doch eben gehirnmäßig Erdachtes, in erster Linie: sensationelles
Theater. Kalt, gelegentlich verblüffend, fast immer interessant, aber niemals
tiefer berührend.“47 1948 sollte auch dieses Theater auf einen Befehl Stalins hin
geschlossen werden.
45 Ders.: Granowskys Theater aus Moskau (Dritter Premierenabend). In: Neue Freie
Presse (15.9.1928), S. 7.
46 Ebd.
47 Ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur