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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 225
Dass das Agitationstheater das Kollektivschicksal darzustellen habe, galt gera-
dezu als Gemeinplatz in der theoretischen Literatur.20 In seinem Aufsatz zum
Massentheater, in dem er sich zu weiten Teilen wörtlich an Keržencev anlehnte,
schrieb Ehrenzweig, es gebe „nur einen Stoff, der Inhalt eines proletarischen
Massenspiels sein kann:
den Kampf der Arbeiterklasse um ihre Freiheit, um den
Sozialismus“.21 Am stärksten beeindruckt zeigten sich die Wiener Theatermacher
von Keržencevs Forderung nach der Abschaffung der Rampe. Dabei ging es
weniger um die Rampe selber, die, zumindest beim Politischen Kabarett, erhal-
ten blieb, als um die postulierte Einheit von Spielern und Zuschauern.22 Wurde
diese bei Keržencev dadurch gewährleistet, dass Spieler wie Zuschauer Arbei-
ter etwa des gleichen Betriebs oder der gleichen Siedlung waren, so garantierte
für die sozialistischen Mittelschüler und Studenten die Einheit der Gesinnung
die Übereinstimmung mit dem (proletarischen) Publikum. Viktor Grünbaum
führte den engen Kontakt zwischen Publikum und Bühne darauf zurück, dass
die Spieler nicht als Schauspieler, sondern als Genossen wirkten.23 Allerdings
stand nicht, wie bei Keržencev, das genuin Schöpferische im Vordergrund, son-
dern der austromarxistische Erziehungsgedanke. Das Agitationstheater spielte
für Jura Soyfer eine wichtige Rolle in der geistigen Erziehung der Arbeiterklasse
und folgerichtig ersetzte er Keržencevs Gleichung, das Theater des Proletariers
schaffe das proletarische Theater, durch die Feststellung, „nur das Theater für
das Proletariat führt zum proletarischen Theater“.24 Doch sei in diesem Zusam-
menhang schon jetzt hinzugefügt, dass in der Wahlagitation ab 1930, in den
20 Vgl. Ernst Fischer:
Theater und Technik. In:
Kunst und Volk, Nr.
10/1929, S.
293–295,
hier S. 295; Jura Soyfer: Politisches Theater. In: Die Politische Bühne, Anfang März
1932, o.S.
21 Robert Ehrenzweig:
Das Theater der Masse. In:
Die Politische Bühne, Mitte Juni 1932,
o.S. (Hervorh. im Original).
22 Vgl. Ernst Fischer: Sprechchor und Drama. In: Arbeiterwille (18.11.1925), S. 5f.,
hier S. 5; ders.: Jugend und Theater. In: Kunst und Volk, Nr. 7/1927, S. 1f.; Neon
[d.i. Robert Ehrenzweig]:
Agitationstheater. In:
Sozialistische Veranstaltungsgruppe,
Das Politische Kabarett, S. 2f., hier S. 3; Viktor [d.i. Viktor Grünbaum]: Das Wiener
„Politische Kabarett“. In:
ebd., S.
7–10, hier S.
8; Robert Ehrenzweig:
Zur Festgestal-
tung. In:
Bildungsarbeit, Nr.
4–5/1932, S.
87; Jura Soyfer:
Die Tendenzbühne und ihr
Publikum. In: Die Politische Bühne, Dezember 1932, S. 70–73, hier S. 70.
23 Vgl. Viktor [d.i. Viktor Grünbaum]:
Das Wiener „Politische Kabarett“. In:
Sozialisti-
sche Veranstaltungsgruppe, Das Politische Kabarett, S. 7–10, hier S. 8.
24 Jura Soyfer:
Die Tendenzbühne und ihr Publikum. In:
Die Politische Bühne, Dezem-
ber 1932, S. 70–73, zit. S. 73.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur