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Jürgen
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Massenspielen und den Rote-Spieler-Gruppen auch in Österreich Arbeiter und
Arbeitslose die Mehrzahl der Mitwirkenden stellten.
Wie bei Keržencev wurde, manchmal direkt an diesen angelehnt, die gemein-
schaftliche Führung des Theaters hervorgehoben, wobei Grünbaum betonte,
dass alles, was die persönliche Eitelkeit bei Spielern fördern könne, vermieden
werden müsse.25 Zwar bildeten sich beim Politischen Kabarett bald Spezialisten
heraus, doch hatten auch Texter wie Grünbaum und Karl Sobel oder die beiden
Bühnenbildner Arnold Meiselmann und Walter Harnisch führende Schauspie-
lerrollen inne. Schließlich agierte das Kabarett auch als Wanderbühne, trat nach
der Premiere in der Riemergasse in den Arbeiterbezirken und später auch in der
Provinz auf.26
Es mag erstaunlich anmuten, wie eng sich die Wiener Spieler, oft bis in die
Wortwahl hinein, an Keržencevs Das schöpferische Theater anlehnten, das ihnen
buchstäblich als Theorie-Handbuch des agitatorischen Theaters diente. Offenbar
stand ihnen damals, zumindest in ihren Anfängen, auch wenig Anderes zur Ver-
fügung, woran sie sich orientieren konnten.
2 Sowjetrussische Erfahrungen und Praxis des
Agitationstheaters
Die ersten Versuche, außerhalb der traditionellen sozialdemokratischen Fest-
kultur Theater zu spielen, waren die 1925 und 1926 in den Sommerkolonien der
sozialistischen Mittelschüler erarbeiteten Freiluftaufführungen zum deutschen
Bauernkrieg und zur Revolution von 1848, die bis etwa 1930 in Wien und zahlrei-
chen Provinzorten aufgeführt wurden.27 „Dieses neue Theater haben keineswegs
wir erfunden“, schrieb Hans Zeisel, die treibende Kraft dieser Unternehmungen.
„Im bolschewistischen Russland ist es ein sehr beliebtes Unterhaltungsmittel der
jugendlichen Arbeiter. Kurz nach dem Umsturz gab es eine Unmenge solcher
Aufführungen, die mehr oder weniger differenzierte Allegorien der Revolution
darstellten“.28 In einem weiteren Bericht dieser sich Rote Spielleute nennenden
25 Vgl. Viktor [d.i. Viktor Grünbaum]:
Das Wiener „Politische Kabarett“. In:
Sozialisti-
sche Veranstaltungsgruppe, Das Politische Kabarett, S. 7–10, hier S. 8.
26 Vgl. ebd., S. 10; Karl Sobel: Wiener Politisches Kabarett. In: Die Politische Bühne,
Anfang Februar 1932, o.S.
27 1927 folgte noch das Spiel über den 1.
Weltkrieg Krieg dem Kriege! (vgl. N.N.:
„Krieg
dem Kriege!“ 25. proletarische Sonntagsfeier der Jugendlichen im Gspöttgraben (Sie-
vering). In: Der Abend (28.6.1927), S. 6).
28 Hans Zeisel: Wir machen Revolution. In: Der Schulkampf, Nr. 5/1926, S. 3–5.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur