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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 235
Masken getragen haben und nicht als Marionetten dargestellt worden sind.62
Allerdings wurde in Wien, anders als in Tret’jakovs Vorlage, der englische Kapi-
tän am Ende gelyncht. Das Thema war den Zuschauern vertraut, war doch der
Kuli eine der emblematischen Figuren im Agitationstheater, in der engagierten
Lyrik und auch in der linken Presse. Mit Ausnahme des Abend, der an der politi-
schen Wirksamkeit des Stücks zweifelte, fanden Stück und Aufführung trotz der
manichäischen Anlage in der sozialdemokratischen Presse begeisterte Zustim-
mung, wobei insbesondere die Regie der Massenszenen Bewunderung erweckte
und zu Vergleichen mit Ėjzenštejns Panzerkreuzer Potemkin animierte.63 Die
Arbeiter-Illustrierte Der Kuckuck sprach von einem „Triumph des Zeittheaters“,
einer „grandiose[n] Vorstellung, die allabendlich das Publikum hinreißt“.64
Für Fritz Rosenfeld war der Publikumserfolg „ein Verdienst des Dichters, des
Spielleiters und der Darsteller“, und er schloss seine ungewöhnlich enthusias-
tische Besprechung in der Arbeiter-Zeitung mit der Feststellung, dieser Abend
sei „ein Sieg des aktuellen Theaters, des lebensnahen Theaters und ein Sieg des
revolutionären Theaters“ gewesen.65 Auch in der bürgerlichen Presse wurde, bei
starken inhaltlichen Vorbehalten, der Regieleistung von Buch beträchtliches
Lob gezollt.66 Selbst Hans Brečka in der Reichspost musste, wenn auch mit ironi-
schem Unterton, eingestehen, die Regie des Fritz Peter Buch habe ausgezeichnet
geklappt.67 Auch in den Erinnerungen ehemaliger Aktivisten blieb diese Auf-
führung lebendig. So berichtet Josef Simon von seiner Begeisterung über diese
Aufführung, der er in Gesellschaft Jura Soyfers und anderer Freunde beigewohnt
hat,68 und der spätere Gewerkschafsführer Egon Kodicek erinnert sich noch
62 Vgl. Jürgen Rühle: Theater und Revolution. München:
dtv 1963, S.
75.
63 Nach der Roten Fahne sind im Text der Wiener Aufführung alle Verweise auf die
Sowjetunion als Stütze der Kulis gestrichen worden (vgl. N.N.:
Brülle, China! Neues
Wiener Schauspielhaus (7.5.1930), S. 5), was die begeisterte Aufnahme durch die
Sozialdemokraten sicherlich erleichterte.
64 N.N.:
Brülle, China! Ein Triumph des Zeittheaters. In:
Der Kuckuck, Nr.
20/1930, S.
9.
65 Fritz Rosenfeld: Sturm über China. Zur Aufführung von S. Tretiakows „Brülle,
China!“ im Neuen Wiener Schauspielhaus. In: Arbeiter-Zeitung (4.5.1930), S. 9.
66 Vgl. e.
kl. [d.i. Emil Kläger]:
Das Stück vom armen Kuli:
Tretiakows „Brülle, China!“
im Neuen Wiener Schauspielhaus. In: Neue Freie Presse (4.5.1930), S. 13; Edwin
Rollet: Brülle, China! von S. Tretiakow. In: Wiener Zeitung (4.5.1930), S. 7.
67 Vgl. [Hans] Brečka: Brülle, China! In: Reichspost (4.5.1930), S. 13.
68 Vgl. Josef T. Simon: Augenzeuge. Erinnerungen eines österreichischen Sozialisten.
Eine sehr persönliche Zeitgeschichte. Wien: Verlag der Wiener Volksbuchhandlung
1979, S.
70.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur