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Brands Oper Maschinist Hopkins und die Avantgarde 241
Kulturerzeugnisse für die Unruhen moderner Vorkriegszeiten hervorgebracht
hatte?5
Wenngleich die der Intention geschuldeten Ausdrucksmittel schwierig zu
rekonstruieren sind,6 lässt sich Sieg über die Sonne zweifelsfrei als Ausdruck eines
prärevolutionären Geistes lesen, der sich in Russland in einer radikal neu entste-
henden Avantgarde manifestierte. Das Kollektiv, welches an der Entstehung der
Anti-Oper arbeitete, ist ein Beleg dafür, wie sich diese Avantgarde unabhängig
von den einzelnen Disziplinen formiert und eine neue Ästhetik kompromisslos
zu etablieren versucht hat.
Symbolisch lässt sich aus heutiger Sicht Folgendes, die Oper Transzendie-
rendes und Exemplarisches verstehen: Die Sonne dient im über weite Strecken
alogischen Handlungsverlauf als Symbol für die vernunftgeleitete Aufklärung,7
für die bürgerliche Gesellschaft und die Natur, die den Menschen zu bezwin-
gen versucht. Der im fiktiven 35. Jahrhundert angestrebte Sieg über die Sonne
wird im ersten Aufzug dadurch realisiert, dass die Sonne in einem Haus aus
Beton eingeschlossen wird. Am Firmament herrschen statt ihrer nun die eins-
tigen Erdbewohner, die sie durch Flugmaschinen bezwungen haben.8 Dieser
Ästhetisierung, wenn nicht Glorifizierung der Maschinen folgt nun in der Detail-
betrachtung auch die musikalische Gestaltung durch Michail Matjušin: Maschi-
nen- und Propellergeräusche nehmen in der Musik autonome Ebenen der
Klanggestaltung ein.9
Die Emanzipation des (Maschinen-)Geräusches in der Musik ist dabei keine
singulär russische Entwicklung: Ein analoger, aber sich auch abgrenzender
Strang zu einer ähnlich gearteten Musikästhetik ist bereits im früheren italieni-
schen Futurismus um den Impulsgeber Filippo Tommaso Marinetti und Luigi
5 In die Musikgeschichte eingegangen sind unter diesem Gesichtspunkt u.a. das Wiener
„Watschenkonzert“ vom 31.
März
1913, das Werke der Zweiten Wiener Schule unter
dem Dirigat Arnold Schönbergs einem konservativen Publikum präsentierte, sowie
die Uraufführung von Igor Stravinskijs Ballett Le sacre du printemps vom 29.
Mai
1913
im Théâtre des Champs-Élysées Paris. Bei beiden Konzerten kam es zu Handgreif-
lichkeiten zwischen den Ausführenden und dem Publikum.
6 Bis heute ist die Oper nur als Fragment erhalten geblieben, die nur wenige Male zu
rekonstruieren versucht wurde.
7 Vgl. Ingold, Der große Bruch, S. 128.
8 Vgl. ebd., S. 127f.
9 Zur wohl beabsichtigten alogischen musikalischen Sprache Matjušins vgl.: Juan
Allende-Blin: Sieg über die Sonne. Kritische Anmerkungen zur Musik Matjusins.
In:
Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hgg.):
Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinis-
ten II. München:
edition text+kritik 1984 (= Musik-Konzepte, Bd.
37/38), S.
168–182.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur