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Marco
Hoffmann244
Gesellschaftlich konnte sich nur eines der ästhetischen Modelle durchsetzen.
Inwieweit die Kunstpolitik Russlands eine nach und nach konservativ werdende
Haltung annahm, lässt sich an den Äußerungen Anatolij Lunačarskijs ablesen,
der seit der Revolution das Amt des Volkskommissars für das Bildungswesen
innehatte und unmittelbar nach der Revolution eine freie Kunstevolution ohne
staatliche Reglementierungen noch befürwortete. In einem Artikel für die Kunst
der Kommune aus dem Jahr 1918 war zu lesen:
Dutzendmal habe ich erklärt, das Kommissariat für Volksaufklärung solle in seiner
Einstellung zu den einzelnen Richtungen im Kunstleben unparteiisch sein. Was Form-
fragen anbetrifft, darf der Geschmack des Volkskommissars und sämtlicher Vertreter
der Staatsgewalt nicht in Rechnung gestellt werden. Allen Personen und Gruppen im
Kunstbereich ist eine freie Entwicklung zu gewähren! Keiner Richtung darf gestattet
werden, die andere zu verdrängen, sei sie mit erworbenem traditionellem Ruhm oder
mit Modeerfolg ausgestattet!20
Drei Jahre später unterzieht Lunačarskij seine Aussagen einer Revision. Wenn-
gleich er es ablehnt, ein „Kesseltreiben gegen [den Futurismus] zu veranstalten,
wodurch [der Staat sich] die Sympathie von Hunderten junger Künstler ver-
scherzen“ würde, zeichnet sich doch deutlich eine zunehmende Beschränkung
künstlerischer Freiheiten ab. In der Zeitschrift Das rote Neuland lässt Lunačarskij
1921 verlautbaren:
Die Kunst selbst ist heute in verschiedene Lager gespalten und eine Trennungslinie fällt
sofort ins Auge: die sogenannte realistische Kunst, unter der man jetzt gemeinhin die
gesamte vergangene Kunst versteht, und die sogenannte futuristische. Ich persönlich
glaube, daß der Weg von der Kunst der Vergangenheit zur proletarischen, sozialisti-
schen Kunst nicht über den Futurismus verläuft, und wenn sie durch diese oder jene
Errungenschaft des Futurismus, und seien sie nur technischer Art, befruchtet wird, so
ist dies wahrscheinlich nicht sehr ernst zu nehmen[.]
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Der Bruch des sowjetischen Staates mit dem Futurismus wurde durch das Auf-
keimen des Sozialistischen Realismus eingeleitet. Was die staatliche Kontrolle
über die Kunst endgültig festigte, war eine 1932 vom Zentralkomitee der KPdSU
erlassene Richtlinie für Kunst und Musik, die die gesamte osteuropäische Kul-
turlandschaft beeinflusste und erst mit Stalins Tod im Jahr 1953 eine Lockerung
erfuhr. Komponisten, die der Avantgarde angehörten, wurden innerhalb die-
ses Zeitraums verfolgt und von der RAPM diffamiert, unter ihnen auch einst
20 Heiner Stachelhaus:
Kasimir Malewitsch. Ein tragischer Konflikt. Düsseldorf:
Claas-
sen 1989, S. 61.
21 Ebd., S.
62f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur