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Vom stummen Panzerkreuzer zum tönenden Potemkin 293
und Nächten“13 entstandene Komposition am Dirigentenpult präsentiert, die eine
für damalige Verhältnisse ausgesprochen experimentell anmutende Klangspra-
che erstmals in die Kinowelt transponiert. Für den Wiener Komponisten Mei-
sel (1894–1930) stand der Panzerkreuzer Potemkin sowohl ganz am Anfang als
auch am Ende seiner Arbeit für den Film. Er war als Filmmusiker vollkommen
unerfahren, hatte zuvor lediglich an einigen Konzerten mitgewirkt und Bühnen-
musiken zu Inszenierungen Erwin Piscators geschrieben. Auf Empfehlung der
Kulturfunktionärin Marija Andrejewa und durch Piscators Vermittlung wurde
er von der Verleihfirma Prometheus mit einer durchkomponierten Begleitmusik
beauftragt. Nach der Erstaufführung des Potemkins avancierte Meisel zu einer
bekannten Größe.14
Meisel arbeitet weitgehend unabhängig von Ėjzenštejn. Im Frühjahr 1926 weilt
der Regisseur in Berlin, begutachtet die von Piel Jutzi großzügig interpretierte
deutsche Fassung seines Films, die auch Grundlage des Kompositionsauftrags
für Meisel ist. Ėjzenštejn ist nicht begeistert, „eine irgendwie zufällige, untypi-
sche Meuterei mit historisch neutralem Hintergrund“ vorgesetzt zu bekommen.
Immerhin, erinnert er sich später, besprach er sich mit dem Komponisten: „Ich
formulierte meine Forderungen an Meisel für eine Musik als Rhythmus, Rhyth-
mus und vor allem reiner Rhythmus … Der ‚stumme‘ Potemkin erteilt dem
Tonfilm eine Lektion.“15 Meisel konzipiert eine Fassung für Salonorchester
(Besetzung: Piccolo/Flöte, Trompete, Posaune, Harmonium, Schlagzeug/drei
Spieler und Streicher/ohne Bratsche). Aufgrund des großen Erfolgs erweitert er
den Orchesterapparat auf über 40 Mann.16
Ėjzenštejn begrüßt Meisels Vorhaben, eine völlig neue, effektvolle, zum
Rhythmus der Montage passende Musik zu schreiben. Die Komposition wird
von der Pauke und anderen perkussiven Instrumenten beherrscht. Sie illustrieren
13 Edmund Meisel: Wie schreibt man Filmmusik? In: Ufa-Magazin, H. 14/1927, o.S.
14 Gleichwohl konnte der Komponist mit keiner seiner weiteren Arbeiten für den Film
–
wie etwa Der heilige Berg (1926), Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927), Oktober.
Zehn Tage, die die Welt erschütterten (1928) oder der nachträglich vertonte Der blaue
Express (1930) – an seinen ersten Erfolg anschließen.
15 Sergej M. Eisenstein, zit. bei: Enno Patalas: Die Irrfahrten der Potemkin. In: Anna
Bohn (Red.): Panzerkreuzer Potemkin. Das Jahr 1905. Programmbroschüre zur Pre-
miere der rekonstruierten Fassung. Berlin:
Stiftung deutsche Kinemathek 2005, S.
10.
16 Vgl. Rainer Fabich: Bronenosez Potjomkin. In: ders.: Musik für den Stummfilm.
Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen. Frankfurt: Peter Lang
1993 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXXVI Musikwissenschaft, Bd.
94),
S. 237–276, hier S. 244.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur