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Vom stummen Panzerkreuzer zum tönenden Potemkin 297
Die kritische Rezeption in den österreichischen Feuilletons und Fachjourna-
len erweist sich ähnlich durchwachsen wie in Deutschland. In Wien wird der
„redende Panzerkreuzer“ am 2. September 1930 der Presse vorgestellt, die ers-
ten Kritiken erscheinen tags darauf. „Es ist merkwürdig, aber kaum zu leugnen“,
notiert Felix Cleve in der Neuen Freien Presse,
[b]
ei der gestrigen Vorführung empfand man das synchronisierte Dröhnen und Tönen,
vor allem aber das Sprechen dieses Films nicht eigentlich als Erlösung aus der Stumm-
heit. Und zumindest hatte man vielfach die Impression, daß das akustische Plus wohl
ein Plus, aber keine Steigerung, ja, gestehen wir es nur: an manchen Stellen sogar eine
gewisse Beeinträchtigung bedeutete. So überall dort, wo Gesprochenes nicht von einem
Stimmengewirr verschlungen wurde, sondern deutlich zu vernehmen war, wo also die
deutschen, ja meist norddeutsch, preußisch artikulierten Worte mit den russischen
Sprechbewegungen unvermeidlicherweise in Disharmonie gerieten.22
Detaillierter setzt sich Fritz Rosenfeld in der Arbeiter-Zeitung mit dem „tönen-
den Potemkin“ auseinander:
Die Zwischentitel des stummen Films sind verschwunden. Knappgeformte Worte werden
dem stummen Bilde unterlegt; sie stimmen nicht immer mit dem Bilde überein, doch ist
in der Mehrzahl der Fälle die Illusion erreicht, daß die Gestalten des Bildes selbst spre-
chen. Vollkommen ist diese Illusion bei den Massenszenen. Die grandiose Defilierung
der Arbeiter von Odessa vor dem toten Matrosen Wakulintschuk wird durch den Mas-
sengesang gewaltig gesteigert; hier halten akustische und optische Gestaltung einander
die Waage. Sehr wirksam ist auch die Geräuschsynchronisierung der Maschinenszenen.
Meisel hat da mit künstlerischem Empfinden seine Musik, das Kolbenstampfen und
das Branden des Meeres um den Bug des Panzerkreuzers, zu symphonischer Wirkung
gebracht. An manchen Stellen wird der Sprechchor eingesetzt; auch er kann den Ein-
druck einer großen Massendemonstration nur erhöhen. Besonders eindringlich wirkt
die monotone Wiederholung weniger Worte in einer aufgeregten Situation: die Mutter,
die mit dem toten Kinde im Arm den Kosaken entgegengeht, verzweifelt und verstört,
schreit unablässig einförmig: „Schießt doch! Schießt doch! Schießt doch!“ bis sie fällt.
Manche Stellen klingen leider nicht klar. Ueber die Aussprache des Wortes „Potemkin“
hätte man sich allerdings vorher einigen müssen; einmal hörte man „Potjemkin“, das
andre Mal, wie es richtig heißt, „Patjomkin“.23
Bei allen Einwänden gegen die Tonfassung, der im Wesentlichen die seinerzeit
verstümmelte Zensurfassung zugrunde liegt, kommt Rosenfeld, der sich für den
sowjetischen Revolutionsfilm seit jeher begeistert hat, zu einem durchaus posi-
tiven Schluss:
22 Felix Cleve:
Panzerkreuzer Potemkin als Tonfilm. In:
Neue Freie Presse (3.9.1930), S.
10.
23 Fritz Rosenfeld: Der tönende Potemkin. In: Arbeiter-Zeitung (3.9.1930), S. 8.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur