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Otto R. Schatz –Neue Sachlichkeit und Proletkult 319
treffend, es wurde schon kaum etwas nachgewiesen. Man nannte es Arbeitsamt. Arbeit
kam nur noch amtlich darin vor. Heute spricht man nur noch von Stempelstellen.49
Das schrieb Maria Leitner 1929 in ihrer Reportagenserie Frauen im Sturm der
Zeit, als mit der Weltwirtschaftskrise die Massenarbeitslosigkeit in Österreich
einen neuen Höhepunkt erreichte. Ein Jahr später fragte Siegfried Kracauer in
seinem Feuilleton „Über Arbeitsnachweise“ nach der Ausgestaltung der Lokali-
täten zur Verwaltung der Arbeitslosigkeit, denn jeder
typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht,
die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles
vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen wird, ist an sei-
nem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer
die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der
sozialen Wirklichkeit dar.50
Schatz’ Arbeitslose wirken wie eine bildkünstlerische Entzifferung des Raum-
bildes „Stempelstelle“. Auf einer Holzbank sitzen und dösen die wartenden
Arbeitslosen im Zeichen des Verbotsschilds, ohne jede Hoffnung und ohne jede
Perspektive.
Auch Schatz’ Schneeschaufler gehören in die Serie zum Thema Massenarbeits-
losigkeit. Schneeschaufeln als ersehnte Verdienstmöglichkeit war ein Standard-
motiv der Arbeitslosenliteratur der Zeit, wie die Arbeit als Sandwich-Mann
– also
im Dienst jener Reklamewelt, die in der Großstadtliteratur als Teil des neuen
Stadtbilds eine zentrale Rolle einnimmt – oder das Warten vor Baustellen, bis
einer der unterernährten Arbeiter aus Schwäche ausfallen könnte. Schatz’ Blatt
Schneeschaufler zeigt die konzentrierte Arbeit, die schlechte Kleidung (die Lap-
pen an den Füßen der rechten Frauen-Figur), ohne sie auszustellen, aber auch
die Verbitterung in der linken Vordergrundfigur mit der Hacke, und vor allem
die radikale Isolierung der Menschen im Zeichen der Verelendung, wo jeder für
sich versuchen muss, so lange durchzuhalten, bis die Schicht vorbei ist und die
paar damit verdienten Groschen abgeholt werden können.
49 Maria Leitner: Frauen im Sturm der Zeit. In: dies.: Elisabeth, ein Hitlermädchen.
Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte. Berlin–Weimar: Aufbau 1985, S. 158–
194, zit. S. 161f.
50 Siegfried Kracauer: Ueber Arbeitsnachweise. In: Frankfurter Zeitung und Handels-
blatt, Erstes Morgenblatt (17.6.1930), S. 1f., zit. S. 1.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Titel
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Untertitel
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Autor
- Primus-Heinz Kucher
- Herausgeber
- Rebecca Unterberger
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Abmessungen
- 14.8 x 21.0 cm
- Seiten
- 466
- Kategorie
- Kunst und Kultur