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simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden
Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, mußte er noch mit
vierzehn Jahren jedesmal die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine
Zeitung zu lesen bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch
besondere Anstrengung. Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder
widerspenstig nennen. Er tat gehorsam, was man ihm gebot, holte Wasser,
spaltete Holz, arbeitete mit auf dem Felde, räumte die Küche auf und
erledigte verläßlich, wenn auch mit verärgernder Langsamkeit, jeden
geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben
am meisten verdroß, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne
besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen
Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht
ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts
erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn
Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn den
geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange
Bauernpfeife schmauchend, mit dem Gendarmeriewachtmeister seine
üblichen drei Schachpartien spielte, hockte der blondsträhnige Bursche
stumm daneben und starrte unter seinen schweren Lidern anscheinend
schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.
Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche
Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens
rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt,
stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge
eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgte
ihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht
ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und
bereitete sich eben vor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel,
wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen
Partie haftete.
»Na, willst du sie zu Ende spielen?« spaßte er, vollkommen überzeugt, daß
der schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu
rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf
den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der
Gendarmeriewachtmeister geschlagen und mußte zudem eingestehen, daß
keineswegs ein versehentlich nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet
habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.
»Bileams Esel!« rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem
weniger bibelfesten Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor
zweitausend Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, daß ein
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik