Seite - 5 - in Schachnovelle
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stummes Wesen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der
vorgerückten Stunde konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb
analphabetischen Famulus zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko
schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschütterlich,
ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brette aufzuheben. Aber
er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der
Gendarmeriewachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen
imstande, eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend
jemand befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen,
wurde nun ernstlich neugierig, wieweit diese einseitige sonderbare Begabung
einer strengeren Prüfung standhalten würde. Nachdem er Mirko bei dem
Dorfbarbier die struppigen strohblonden Haare hatte schneiden lassen, uni ihn
einigermaßen präsentabel zu machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in
die kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit
enragierten Schachspielern wußte, denen er selbst erfahrungsgemäß nicht
gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen,
als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und rotbackigen Burschen
in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren, hohen
Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu
nieder geschlagenen Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem
der Schachtische hinrief. In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er
die sogenannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen
hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis.
Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen nach dem andern.
Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst
selten aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen
Champions für die versammelten Honoratioren unverzüglich zur Sensation.
Einstimmig wurde beschlossen, der Wunderknabe müßte unbedingt noch bis
zum nächsten Tage in der Stadt bleiben, damit man die anderen Mitglieder
des Schachklubs zusammenrufen und vor allem den alten Grafen Simczic,
einen Fanatiker des Schachspiels, auf seinem Schlosse verständigen könne.
Der Pfarrer, der mit einem ganz neuen Stolz auf seinen Pflegling blickte, aber
über seiner Entdeckerfreude doch seinen pflichtgemäßen
Sonntagsgottesdienst nicht versäumen wollte, erklärte sich bereit, Mirko für
eine weitere Probe zurückzulassen. Der junge Czentovic wurde auf Kosten
der Schachecke im Hotel einquartiert und sah an diesem Abend zum
erstenmal ein Wasserklosett. Am folgenden Sonntagnachmittag war der
Schachraum überfüllt. Mirko, unbeweglich vier Stunden vor dem Brett
sitzend, besiegte, ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur aufzuschauen,
einen Spieler nach dem andern; schließlich wurde eine Simultanpartie
vorgeschlagen. Es dauerte eine Welle, ehe man dem Unbelehrten begreiflich
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik