Seite - 9 - in Schachnovelle
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schien mir eine Gehirntätigkeit, die ein ganzes Leben lang ausschließlich um
einen Raum von vierundsechzig schwarzen und weißen Feldern rotiert. Ich
wußte wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des
›königlichen Spiels‹, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch
ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine
Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form
geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht bereits einer
beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt?
Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst, schwebend zwischen diesen
Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde, eine
einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu,
mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in
geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen,
ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine
Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur
ohne Substanz und nichtsdestominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem
Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen
Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott
es auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen,
die Seele zu spannen. Wo ist bei ihm Anfang und wo das Ende: jedes Kind
kann seine ersten Regeln erlernen, jeder Stümper sich in ihm versuchen, und
doch vermag es innerhalb dieses unveränderbar engen Quadrats eine
besondere Spezies von Meistern zu erzeugen, unvergleichbar allen anderen,
Menschen mit einer einzig dem Schach zubestimmten Begabung, spezifische
Genies, in denen Vision, Geduld und Technik in einer ebenso genau
bestimmten Verteilung wirksam sind wie im Mathematiker, im Dichter, im
Musiker, und nur in anderer Schichtung und Bindung. In früheren Zeiten
physiognomischer Leidenschaft hätte ein Gall vielleicht die Gehirne solcher
Schachmeister seziert, um festzustellen, ob bei solchen Schachgenies eine
besondere Windung in der grauen Masse des Gehirns, eine Art Schachmuskel
oder Schachhöcker sich intensiver eingezeichnet fände als in anderen
Schädeln. Und wie hätte einen solchen Physiognomiker erst der Fall eines
Czentovic angereizt, wo dies spezifische Genie eingesprengt erscheint in eine
absolute intellektuelle Trägheit wie ein einzelner Faden Gold in einem
Zentner tauben Gesteins. Im Prinzip war mir die Tatsache von jeher
verständlich, daß ein derart einmaliges, ein solches geniales Spiel sich
spezifische Matadore schaffen mußte, aber wie schwer, wie unmöglich doch,
sich das Leben eines geistig regsamen Menschen vorzustellen, dem sich die
Weit einzig auf die enge Einbahn zwischen Schwarz und Weiß reduziert, der
in einem bloßen Hin und Her, Vor und Zurück von zweiunddreißig Figuren
seine Lebenstriumphe sucht, einen Menschen, dem bei einer neuen
Eröffnung, den Springer vorzuziehen statt des Bauern, schon Großtat und sein
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik