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versagt. Nie sah ich außer dem Wärter, der kein Wort sprechen und auf keine
Frage antworten durfte, ein menschliches Gesicht, nie hörte ich eine
menschliche Stimme; Auge, Ohr, alle Sinne bekamen von morgens bis nachts
und von nachts bis morgens nicht die geringste Nahrung, man blieb mit sich,
mit seinem Körper und den vier oder fünf stummen Gegenständen Tisch,
Bett, Fenster, Waschschüssel rettungslos allein; man lebte wie ein Taucher
unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein
Taucher sogar, der schon ahnt, daß das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist
und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu
tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um
einen das Nichts, die völlige raumlose und zeitlose Leere. Man ging auf und
ab, und mit einem gingen die Gedanken auf und ab, auf und ab, immer
wieder. Aber selbst Gedanken, so substanzlos sie scheinen, brauchen einen
Stützpunkt, sonst beginnen sie zu rotieren und sinnlos um sich selbst zu
kreisen; auch sie ertragen nicht das Nichts. Man wartete auf etwas, von
morgens bis abends, und es geschah nichts. Man wartete wieder und wieder.
Es geschah nichts. Man wartete, wartete, wartete, man dachte, man dachte,
man dachte, bis einem die Schläfen schmerzten. Nichts geschah. Man blieb
allein. Allein. Allein.
Das dauerte vierzehn Tage, die ich außerhalb der Zeit, außerhalb der Welt
lebte. Wäre damals ein Krieg ausgebrochen, ich hätte es nicht erfahren; meine
Welt bestand doch nur aus Tisch, Tür, Bett, Waschschüssel, Sessel, Fenster
und Wand, und immer starrte ich auf dieselbe Tapete an derselben Wand; jede
Linie ihres gezackten Musters hat sich wie mit ehernem Stichel eingegraben
bis in die innerste Falte meines Gehirns, so oft habe ich sie angestarrt. Dann
endlich begannen die Verhöre. Man wurde plötzlich abgerufen, ohne recht zu
wissen, ob es Tag war oder Nacht. Man wurde gerufen und durch ein paar
Gänge geführt, man wußte nicht wohin; dann wartete man irgendwo und
wußte nicht wo und stand plötzlich vor einem Tisch, um den ein paar
uniformierte Leute saßen. Auf dem Tisch lag ein Stoß Papier: die Akten, von
denen man nicht wußte, was sie enthielten, und dann begannen die Fragen,
die echten und die falschen, die klaren und die tückischen, die Deckfragen
und Fangfragen, und während man antwortete, blätterten fremde, böse Finger
in den Papieren, von denen man nicht wußte, was sie enthielten, und fremde,
böse Finger schrieben etwas in ein Protokoll, und man wußte nicht, was sie
schrieben. Aber das Fürchterlichste bei diesen Verhören für mich war, daß ich
nie erraten und errechnen konnte, was die Gestapoleute von den Vorgängen in
meiner Kanzlei tatsächlich wußten und was sie erst aus mir herausholen
wollten. Wie ich Ihnen bereits sagte, hatte ich die eigentlich belastenden
Papiere meinem Onkel in letzter Stunde durch die Haushälterin geschickt.
Aber hatte er sie erhalten? Hatte er sie nicht erhalten? Und wieviel hatte jener
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik