Seite - 30 - in Schachnovelle
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Schemata der einzelnen Meisterpartien und darunter mir zunächst
unverständliche Zeichen, a2-a3, S f1 - g3 und so weiter. Alles das schien mir
eine Art Algebra, zu der ich keinen Schlüssel fand. Erst allmählich enträtselte
ich, daß die Buchstaben a, b, c für die Längsreihen, die Zahlen 1 bis 8 für die
Querreihen eingesetzt waren und den Jeweiligen Stand jeder einzelnen Figur
bestimmten; damit bekamen die rein graphischen Schemata immerhin eine
Sprache. Vielleicht, überlegte ich, könnte ich mir in meiner Zelle eine Art
Schachbrett konstruieren und dann versuchen, diese Partien nachzuspielen;
wie ein himmlischer Wink erschien es mir, daß mein Bettuch sich zufällig als
grob kariert erwies. Richtig zusammengefaltet, ließ es sich am Ende so legen,
um vierundsechzig Felder zusammenzubekommen. Ich versteckte also
zunächst das Buch unter der Matratze und riß nur die erste Seite heraus. Dann
begann ich aus kleinen Krümeln, die ich mir von meinem Brot absparte, in
selbstverständlich lächerlich unvollkommener Weise die Figuren des Schachs,
König, Königin und so weiter, zurechtzumodeln; nach endlosem Bemühen
konnte ich es schließlich unternehmen, auf dem karierten Bettuch die im
Schachbuch abgebildete Position zu rekonstruieren. Als ich aber versuchte,
die ganze Partie nachzuspielen, mißlang es zunächst vollkommen mit meinen
lächerlichen Krümelfiguren, von denen Ich zur Unterscheidung die eine
Hälfte mit Staub dunkler gefärbt hatte. Ich verwirrte mich in den ersten Tagen
unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal mußte ich diese eine Partie immer
wieder von Anfang beginnen. Aber wer auf Erden verfügte über so viel
ungenützte und nutzlose Zeit wie ich, der Sklave des Nichts, wem stand so
viel unermeßliche Gier und Geduld zu Gebot? Nach sechs Tagen spielte ich
schon die Partie tadellos zu Ende, nach weiteren acht Tagen benötigte ich
nicht einmal die Krümel auf dem Bettuch mehr, um mir die Position aus dem
Schachbuch zu vergegenständlichen, und nach weiteren acht Tagen wurde
auch das karierte Bettuch entbehrlich; automatisch verwandelten sich die
anfangs abstrakten Zeichen des Buches a1, a2, c7, c8 hinter meiner Stirn zu
visuellen, zu plastischen Positionen. Die Umstellung war restlos gelungen: ich
hatte das Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert und überblickte
auch dank der bloßen Formeln die jeweilige Position, so wie einem geübten
Musiker der bloße Anblick der Partitur schon genügt, um alle Stimmen und
ihren Zusammenklang zu hören. Nach weiteren vierzehn Tagen war ich
mühelos imstande, jede Partie aus dem Buch auswendig - oder, wie der
Fachausdruck lautet: blind - nachzuspielen; jetzt erst begann ich zu verstehen,
welche unermeßliche Wohltat mein frecher Diebstahl mir eroberte. Denn ich
hatte mit einem Male eine Tätigkeit - eine sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie
wollen, aber doch eine, die das Nichts um mich zunichte machte, ich besaß
mit den hundertfünfzig Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die
erdrückende Monotonie des Raumes und der Zeit. Um mir den Reiz der neuen
Beschäftigung ungebrochen zu bewahren, teilte ich mir von nun ab jeden Tag
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik