Seite - 31 - in Schachnovelle
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genau ein: zwei Partien morgens, zwei Partien nachmittags, abends dann noch
eine rasche Wiederholung. Damit war mein Tag, der sich sonst wie Gallert
formlos dehnte, ausgefüllt, ich war beschäftigt, ohne mich zu ermüden, denn
das Schachspiel besitzt den wunderbaren Vorzug, durch Bannung der
geistigen Energien auf ein engbegrenztes Feld selbst bei anstrengendster
Denkleistung das Gehirn nicht zu erschlaffen, sondern eher seine Agilität und
Spannkraft zu schärfen. Allmählich begann bei dem zuerst bloß
mechanischen Nachspielen der Meisterpartien ein künstlerisches, ein
lusthaftes Verständnis in mir zu erwachen. Ich lernte die Feinheiten, die
Tücken und Schärfen in Angriff und Verteidigung verstehen, ich erfaßte die
Technik des Vorausdenkens, Kombinierens, Ripostierens und erkannte bald
die persönliche Note jedes einzelnen Schachmeisters in seiner individuellen
Führung so unfehlbar, wie man Verse eines Dichters schon aus wenigen
Zellen feststellt; was als bloß zeitfüllende Beschäftigung begonnen, wurde
Genuß, und die Gestalten der großen Schachstrategen, wie Aljechin, Lasker,
Bogoljubow, Tartakower, traten als geliebte Kameraden in meine Einsamkeit.
Unendliche Abwechslung beseelte täglich die stumme Zelle, und gerade die
Regelmäßigkeit meiner Exerzitien gab meiner Denkfähigkeit die schon
erschütterte Sicherheit zurück: ich empfand mein Gehirn aufgefrischt und
durch die ständige Denkdisziplin sogar noch gleichsam neu geschliffen. Daß
ich klarer und konziser dachte, erwies sich vor allem bei den Vernehmungen;
unbewußt hatte ich mich auf dem Schachbrett in der Verteidigung gegen
falsche Drohungen und verdeckte Winkelzüge vervollkommnet; von diesem
Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine Blöße mehr, und mir
dünkte sogar, daß die Gestapoleute mich allmählich mit einem gewissen
Respekt zu betrachten begannen. Vielleicht fragten sie sich im stillen, da sie
alle anderen zusammenbrechen sahen, aus welchen geheimen Quellen ich
allein die Kraft solch unerschütterlichen Widerstands schöpfte.
Diese meine Glückszeit, da ich die hundertfünfzig Partien jenes Buches
Tag für Tag systematisch nachspielte, dauerte etwa zweieinhalb bis drei
Monate. Dann geriet ich unvermuteterweise an einen toten Punkt. Plötzlich
stand ich neuerdings vor dem Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie
zwanzig- oder dreißigmal durchgespielt hatte, verlor sie den Reiz der Neuheit,
der Überraschung, ihre vordem so aufregende, so anregende Kraft war
erschöpft. Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partien zu
wiederholen, die ich Zug um Zug längst auswendig kannte? Kaum ich die
erste Eröffnung getan, klöppelte sich ihr Ablauf gleichsam automatisch in mir
ab, es gab keine Überraschung mehr, keine Spannungen, keine Probleme. Um
mich zu beschäftigen, um mir die schon unentbehrlich gewordene
Anstrengung und Ablenkung zu schaffen, hätte ich eigentlich ein anderes
Buch mit anderen Partien gebraucht. Da dies aber vollkommen unmöglich
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik