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war, gab es nur einen Weg auf dieser sonderbaren Irrbahn: ich mußte mir statt
der alten Partien neue erfinden. Ich mußte versuchen, mit mir selbst oder
vielmehr gegen mich selbst zu spielen.
Ich weiß nun nicht, bis zu welchem Grade Sie über die geistige Situation
bei diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben. Aber schon die flüchtigste
Überlegung dürfte ausreichen, um klarzumachen, daß beim Schach als einem
reinen, vom Zufall abgelösten Denkspiel es logischerweise eine Absurdität
bedeutet, gegen sich selbst spielen zu wollen. Das Attraktive des Schachs
beruht doch im Grunde einzig darin, daß sich seine Strategie in zwei
verschiedenen Gehirnen verschieden entwickelt, daß in diesem geistigen
Krieg Schwarz die jeweiligen Manöver von Weiß nicht kennt und ständig zu
erraten und zu durchkreuzen sucht, während seinerseits wiederum Weiß die
geheimen Absichten von Schwarz zu überholen und parieren strebt. Bildeten
nun Schwarz und Weiß ein und dieselbe Person, so ergäbe sich der
widersinnige Zustand, daß ein und dasselbe Gehirn gleichzeitig etwas wissen
und doch nicht wissen sollte, daß es als Partner Weiß funktionierend, auf
Kommando völlig vergessen könnte, was es eine Minute vorher als Partner
Schwarz gewollt und beabsichtigt. Ein solches Doppeldenken setzt eigentlich
eine vollkommene Spaltung des Bewußtseins voraus, ein beliebiges Auf- und
Abblendenkönnen der Gehirnfunktion wie bei einem mechanischen Apparat;
gegen sich selbst spielen zu wollen, bedeutet also im Schach eine solche
Paradoxie, wie über seinen eigenen Schatten zu springen. Nun, um mich kurz
zu fassen, diese Unmöglichkeit, diese Absurdität habe ich in meiner
Verzweiflung monatelang versucht. Aber ich hatte keine Wahl als diesen
Widersinn, um nicht dem puren Irrsinn oder einem völligen geistigen
Marasmus zu verfallen. Ich war durch meine fürchterliche Situation
gezwungen, diese Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zumindest zu
versuchen, um nicht erdrückt zu werden von dem grauenhaften Nichts um
mich.”
Dr. B. lehnte sich zurück in den Liegestuhl und schloß für eine Minute die
Augen. Es war, als ob er eine verstörende Erinnerung gewaltsam
unterdrücken wollte. Wieder lief das merkwürdige Zucken, das er nicht zu
beherrschen wußte, um den linken Mundwinkel. Dann richtete er sich in
seinem Lehnstuhl etwas höher auf.
»So - bis zu diesem Punkte hoffe ich, Ihnen alles ziemlich verständlich
erklärt zu haben. Aber ich bin leider keineswegs gewiß, ob ich das Weitere
Ihnen noch ähnlich deutlich veranschaulichen kann. Denn diese neue
Beschäftigung erforderte eine so unbedingte Anspannung des Gehirns, daß sie
jede gleichzeitige Selbstkontrolle unmöglich machte. Ich deutete Ihnen schon
an, daß meiner Meinung nach es an sich schon Nonsens bedeutet, Schach
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik