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gegen sich selber spielen zu wollen; aber selbst diese Absurdität hätte
immerhin noch eine minimale Chance mit einem realen Schachbrett vor sich,
weil das Schachbrett durch seine Realität immerhin noch eine gewisse
Distanz, eine materielle Exterritorialisierung erlaubt. Vor einem wirklichen
Schachbrett mit wirklichen Figuren kann man Überlegungspausen
einschalten, man kann sich rein körperlich bald auf die eine Seite, bald auf die
andere Seite des Tisches stellen und damit die Situation bald vom Standpunkt
Schwarz, bald vom Standpunkt Weiß ins Auge fassen. Aber genötigt, wie ich
es war, diese Kämpfe gegen mich selbst oder, wenn Sie wollen, mit mir selbst
in einen imaginären Raum zu projizieren, war ich gezwungen, in meinem
Bewußtsein die jeweilige Stellung auf den vierundsechzig Feldern deutlich
festzuhalten und außerdem nicht nur die momentane Figuration, sondern auch
schon die möglichen weiteren Züge von beiden Partnern mir
auszukalkulieren, und zwar - ich weiß, wie absurd dies alles klingt - mir
doppelt und dreifach zu imaginieren, nein, sechsfach, achtfach, zwölffach, für
jedes meiner Ich, für Schwarz und Weiß immer schon vier und fünf Züge
voraus. Ich mußte - verzeihen Sie, daß ich Ihnen zumute, diesen Irrsinn
durchzudenken bei diesem Spiel im abstrakten Raum der Phantasie als Spieler
Weiß vier oder fünf Züge vorausberechnen und ebenso als Spieler Schwarz,
also alle sich in der Entwicklung ergebenden Situationen gewissermaßen mit
zwei Gehirnen vorauskombinieren, mit dem Gehirn Weiß und dem Gehirn
Schwarz. Aber selbst diese Selbstzerteilung war noch nicht das Gefährlichste
an meinem abstrusen Experiment, sondern daß ich durch das selbständige
Ersinnen von Partien mit einemmal den Boden unter den Füßen verlor und ins
Bodenlose geriet. Das bloße Nachspielen der Meisterpartien, wie ich es in den
vorhergehenden Wochen geübt, war schließlich nichts als eine reproduktive
Leistung gewesen, ein reines Rekapitulieren einer gegebenen Materie und als
solches nicht anstrengender, als wenn ich Gedichte auswendig gelernt hätte
oder Gesetzesparagraphen memoriert, es war eine begrenzte, eine
disziplinierte Tätigkeit und darum ein ausgezeichnetes Exercitium mentale.
Meine zwei Partien, die ich morgens, die zwei, die ich nachmittags probte,
stellten ein bestimmtes Pensum dar, das ich ohne jeden Einsatz von Erregung
erledigte; sie ersetzten mir eine normale Beschäftigung, und überdies hatte
ich, wenn ich mich im Ablauf einer Partie irrte oder nicht weiter wußte, an
dem Buche noch immer einen Halt. Nur darum war diese Tätigkeit für meine
erschütterten Nerven eine so heilsame und eher beruhigende gewesen, weil
ein Nachspielen fremder Partien nicht mich selber ins Spiel brachte; ob
Schwarz oder Weiß siegte, blieb mir gleichgültig, es waren doch Aljechin
oder Bogoljubow, die um die Palme des Champions kämpften, und meine
eigene Person, mein Verstand, meine Seele genossen einzig als Zuschauer, als
Kenner die Peripetien und Schönheiten jener Partien. Von dem Augenblick
an, da ich aber gegen mich zu spielen versuchte, begann ich mich unbewußt
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik