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herauszufordern. jedes meiner beiden Ich, mein Ich Schwarz und mein Ich
Weiß, hatten zu wetteifern gegeneinander und gerieten jedes für sein Tell in
einen Ehrgeiz, in eine Ungeduld, zu siegen, zu gewinnen; ich fieberte als Ich
Schwarz nach jedem Zuge, was das Ich Weiß nun tun würde. jedes meiner
beiden Ich triumphierte, wenn das andere einen Fehler machte, und erbitterte
sich gleichzeitig über sein eigenes Ungeschick.
Das alles scheint sinnlos, und in der Tat wäre ja eine solche künstliche
Schizophrenie, eine solche Bewußtseinsspaltung mit ihrem Einschuß an
gefährlicher Erregtheit bei einem normalen Menschen in normalem Zustand
undenkbar. Aber vergessen Sie nicht, daß ich aus aller Normalität gewaltsam
gerissen war, ein Häftling, unschuldig eingesperrt, seit Monaten raffiniert mit
Einsamkeit gemartert, ein Mensch, der seine aufgehäufte Wut längst gegen
irgend etwas entladen wollte. Und da ich nichts anderes hatte als dies
unsinnige Spiel gegen mich selbst, fuhr meine Wut, meine Rachelust
fanatisch in dieses Spiel hinein. Etwas in mir wollte recht behalten, und ich
hatte doch nur dieses andere Ich in mir, das ich bekämpfen konnte; so
steigerte ich mich während des Spiels in eine fast manische Erregung. Im
Anfang hatte ich noch ruhig und überlegt gedacht, ich hatte Pausen
eingeschaltet zwischen einer und der andern Partie, um mich von der
Anstrengung zu erholen; aber allmählich erlaubten meine gereizten Nerven
mir kein Warten mehr. Kaum hatte mein Ich Weiß einen Zug getan, stieß
schon mein Ich Schwarz fiebrig vor; kaum war eine Partie beendigt, so
forderte ich mich schon zur nächsten heraus, denn jedesmal war doch eines
der beiden Schach-Ich von dem andern besiegt und verlangte Revanche. Nie
werde ich auch nur annähernd sagen können, wie viele Partien ich infolge
dieser irrwitzigen Unersättlichkeit während dieser letzten Monate in meiner
Zelle gegen mich selbst gespielt - vielleicht tausend, vielleicht mehr. Es war
eine Besessenheit, deren ich mich nicht erwehren konnte; von früh bis nachts
dachte ich an nichts als an Läufer und Bauern und Turm und König und a und
b und c und Matt und Rochade, mit meinem ganzen Sein und Fühlen stieß es
mich in das karierte Quadrat. Aus der Spielfreude war eine Spiellust
geworden, aus der Spiellust ein Spielzwang, eine Manie, eine frenetische
Wut, die nicht nur meine wachen Stunden, sondern allmählich auch meinen
Schlaf durchdrang. Ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen,
Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte,
daß ich sogar im Schlaf unbewußt weitergespielt haben mußte, und wenn ich
von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich in den Bewegungen des
Läufers, des Turms, im Vor und Zurück des Rösselsprungs. Selbst wenn ich
zum Verhör gerufen wurde, konnte ich nicht mehr konzis an meine
Verantwortung denken; ich habe die Empfindung, daß bei den letzten
Vernehmungen ich mich ziemlich konfus ausgedrückt haben muß, denn die
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik