Seite - 38 - in Schachnovelle
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meine Entlassung. Mag sein, daß er mich als unzurechnungsfähig erklärt hat,
oder vielleicht war ich inzwischen schon der Gestapo unwichtig geworden,
denn Hitler hatte seitdem Böhmen besetzt, und damit war der Fall Österreich
für ihn erledigt. So brauchte ich nur die Verpflichtung zu unterzeichnen,
unsere Heimat innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen, und diese vierzehn
Tage waren dermaßen erfüllt mit all den tausend Formalitäten, die heutzutage
der einstmalige Weltbürger zu einer Ausreise benötigt - Militärpapiere,
Polizei, Steuer, Paß, Visum, Gesundheitszeugnis -, daß ich keine Zeit hatte,
über das Vergangene viel nachzusinnen. Anscheinend wirken in unserem
Gehirn geheimnisvoll regulierende Kräfte, die, was der Seele lästig und
gefährlich werden kann, selbsttätig ausschalten, denn immer, wenn ich
zurückdenken wollte an meine Zellenzeit, erlosch gewissermaßen in meinem
Gehirn das Licht; erst nach Wochen und Wochen, eigentlich erst hier auf dem
Schiff, fand ich wieder den Mut, mich zu besinnen, was mir geschehen war.
Und nun werden Sie begreifen, warum ich mich so ungehörig und
wahrscheinlich unverständlich Ihren Freunden gegenüber benommen. Ich
schlenderte doch nur ganz zufällig durch den Rauchsalon, als ich Ihre
Freunde vor dem Schachbrett sitzen sah; unwillkürlich fühlte ich den Fuß
angewurzelt vor Staunen und Schrecken. Denn ich hatte total vergessen, daß
man Schach spielen kann an einem wirklichen Schachbrett und mit
wirklichen Figuren, vergessen, daß bei diesem Spiel zwei völlig verschiedene
Menschen einander leibhaftig gegenübersitzen. Ich brauchte wahrhaftig ein
paar Minuten, um mich zu erinnern, daß, was diese Spieler dort taten, im
Grunde dasselbe Spiel war, das ich in meiner Hilflosigkeit monatelang gegen
mich selbst versucht. Die Chiffren, mit denen ich mich beholfen während
meiner grimmigen Exerzitien, waren doch nur Ersatz gewesen und Symbol
für diese beinernen Figuren; meine Überraschung, daß dieses Figurenrücken
auf dem Brett dasselbe sei wie mein imaginäres Phantasieren im Denkraum,
mochte vielleicht der eines Astronomen ähnlich sein, der sich mit den
kompliziertesten Methoden auf dem Papier einen neuen Planeten errechnet
hat und ihn dann wirklich am Himmel erblickt als einen weißen, klaren,
substantiellen Stern. Wie magnetisch festgehalten starrte ich auf das Brett und
sah dort meine Schemata, Pferd, Turm, König, Königin und Bauern als reale
Figuren, aus Holz geschnitzt; um die Stellung der Partie zu überblicken,
mußte ich sie unwillkürlich erst zurückmutieren aus meiner abstrakten
Ziffernwelt in die der bewegten Steine. Allmählich überkam mich die
Neugier, ein solches reales Spiel zwischen zwei Partnern zu beobachten. Und
da passierte das Peinliche, daß ich, alle Höflichkeit vergessend, mich
einmengte in Ihre Partie. Aber dieser falsche Zug Ihres Freundes traf mich
wie ein Stich ins Herz. Es war eine reine Instinkthandlung, dass ich ihn
zurückhielt, ein impulsiver Zugritt, wie man, ohne zu überlegen, ein Kind
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Buch Schachnovelle"
Schachnovelle
- Titel
- Schachnovelle
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 46
- Schlagwörter
- Literatur, Unterricht, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik