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Die anatomischen Wachsmodelle des Josephinums 67
Puppe sei nützlich, da das Kind Ordnung, Reinlichkeit und handwerk
liche Fähig-
keiten wie Nähen einübe. „Wie ein Mädgen in der Kindheit mit den Spielsachen ver-
fährt, so verfährt es bei erwachsenen Jahren mit der Welt.“22 Debatten um den Umgang
mit Dingen verhandelten nicht nur die gesellschaft liche Rolle der Frau, sondern oft
auch die weib liche Natur selbst. So erklärte Jean Paul: „Ein Mann hat zwei Ich, eine
Frau nur eines und bedarf des fremden, um ihres zu sehen. Aus diesem weib lichen
Mangel an Selbstgesprächen und an Selbstverdopplung erklären sich die meisten
Nach- und Vorteile der weib lichen Natur. [...] Die Männer lieben mehr Sachen, z. B.
Wahrheiten, Güter, Länder; die Weiber mehr Personen; jene machen sogar leicht
Personen zu dem, was sie lieben; so wie, was Wissenschaft für einen Mann ist, wieder
leicht für eine Frau ein Mann wird, der Wissenschaft hat. Schon als Kind liebt die Frau
einen Vexier-Menschen, die Puppe, und arbeitet für diese; der Knabe hält sich ein
Steckenpferd und eine Bleimiliz und arbeitet mit dieser.“23 Die klare Zuordnung der
Puppe zur weib lichen Erziehung und zur weib lichen Natur erwies sich für das
medizinische Lernen am Modell als problematisch.
Objekt, Medizin und Gefühl
Nicht nur in der allgemeinen Pädagogik, sondern auch in der medizinischen Ausbil-
dung des 18. Jahrhunderts wurde das Lernen am Objekt thematisiert. Eine grund-
legende Frage dabei war, inwieweit es problematisch sei, den Patienten selbst als
Objekt zu instrumentalisieren. Dies hatte sowohl praktische als auch moralische
Gründe. Gerade an Universitätsspitälern, die der medizinischen Ausbildung dienten,
wurden die (meist armen) Patienten zum Lehrmaterial: Patienten bekamen kostenlose
medizinische Behandlung und standen im Gegenzug den Medizinstudenten zur Aus-
bildung zur Verfügung. Auseinandersetzungen bezüglich dieser Praxis brachen beson-
ders in der Geburtshilfe aus. Im 18. Jahrhundert wurden sogenannte geburtshilfl iche
Phantome eingeführt – lebensgroße Modelle eines weib
lichen Unterleibs mit Kind.
Aus robusten Materialien wie Holz, Knochen, Leder und Textilien gefertigt, ermög-
lichten diese Phantome die Einübung geburtshilfl icher Handgriffe (Abb. 4). Der
Direktor der Universitätsentbindungsanstalt in Göttingen, Friedrich Benjamin
Osiander, beschrieb sein Phantom als „ein gut geformtes, mit Leder überzogenes,
weib liches Becken, das einen die Bauchhöhle vorstellenden Raum und abgestumpfte
Schenkel hat, und [...] also den Rumpf vor[stellt], von der Spitze des Brustknorpels bis
zu der Mitte der Schenkel. [...] Das Fantome ist auf einen besonderen Kasten, und
dieser während den Uebungen in der Mitte des Saals jedesmal auf den Boden fest-
geschraubt. Die Höhe des Fantom’s ist so, daß die Operationsübungen sowohl sitzend,
als kniend vorgenommen werden können.“24
22 Ebenda, 132.
23 Jean Paul 1827, 54, 57.
24 Osiander 1794–1795, Bd. 1, cviii–cviv; vgl. Loytved 2007, 361 und Metz-Becker 1997, 192.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur