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Die anatomischen Wachsmodelle des Josephinums 69
können. Ja, ich pflege oft allerley schwere Geburtsoperationen mit würklich neuge-
bornen aber todten Kindern, in dieser Maschine vorzunehmen und verrichten zu
lassen.“28 Auch Osiander bestätigte, dass bei ihm alle „Uebungen am Fantome mit
Kinderleichnamen gemacht [werden], aus der Ueberzeugung, dass auch die künst-
lichste Puppe ein zweckloses Spielzeug zu diesen Uebungen ist. [...] Die tauglichsten
Leichname von Kindern, welche auf dem Hause sterben, werden daher immer zu die-
ser Absicht in Weingeist aufbewahrt.“29 Der Gebrauch geburtshilfl
icher Modelle und
heterogener Mischungen von natür
lichem und künst lichem Material sowie die Instru-
mentalisierung schwangerer Patientinnen als Übungsmaterial, warfen damit dreierlei
Fragen auf:
– Schadet die Instrumentalisierung den Patientinnen?
– Ist der Gebrauch von Phantomen ebenso nützlich wie das Üben am echten – leben-
den oder toten – Körper?
– Welche Auswirkungen hat der Umgang mit simulierten Körpern auf die Geschick-
lichkeit, Einfühlsamkeit und Moral der Geburtshelfer?
Diese Debatten um den Nutzen und die Gefahren des medizinischen Lernens am
Objekt waren geprägt von dem umstrittenen Begriff der Empfindsamkeit. Während
die Empfindsamkeit als ein Erkennungsmal des moralischen Menschen seit der Mitte
des 18. Jahrhunderts vielfach positiv gewertet wurde, blieb das angemessene Ausmaß
emotionaler Regungen gerade in Bezug auf Männer und Mediziner umstritten. So
erklärte der Theologe Johann August Eberhard: „Menschen haben immer ein Mitge-
fühl an dem Glück und dem Unglück anderer Menschen empfunden. Aber bey männ-
lichern Nationen, bey unsern männ
lichern Vorfahren war dieses Mitgefühl eine ernst-
hafte Sache. Es gieng in Thätigkeit über, führte zum Berathschlagen über die Vermin-
derung des Elends, zum Wirken und Handanlegen, um des Unangenehmen dieses
Gefühls los zu werden, und die Freuden der hülfreichen Barmherzigkeit zu geniessen.
Indeß schwelgt die Empfindsamkeit in wollüstigen Schmerzen über erdichtete Leiden,
und schmachtet bey den wirk lichen in Thränen dahin, haucht ihre Kraft in Seufzern
aus, und sinket unter den Verzückungen eines theatralischen Schmerzes nieder; [...]
Der Wundarzt darf mit seinen Gedanken nicht bey den Schmerzen des Leidenden
verweilen, wenn ihm die Regeln seiner Kunst sollen gegenwärtig genug seyn, um eine
schmerzhafte Operation glücklich zu verrichten, das Uebel aus der Wurzel zu heben,
jeden gefähr lichen Schnitt zu vermeiden, [...] aber auch keinen nöthigen zu sparen. Das
alles erfordert Besonnenheit, Gegenwart des Geistes und Festigkeit der Hand; und in
dem genauen Maasse, als er diese gewinnt, muß die Empfindsamkeit weichen, und
dem sanftern, mildern Gefühle der vernünftigen, hellen, unbetäubenden Menschlich-
keit Platz machen.“30 Sowohl der angemessene Umgang mit Objekten als auch mit
Menschen war für Männer und Mediziner ein Balanceakt, der die Debatte um die
anatomischen Modelle prägte. Ein weiterer diskursiver Kontext, der die Debatte
28 Stein 1797; vgl. Metz-Becker 1997, 193.
29 Osiander 1794–1795, cviii; vgl. Metz-Becker 1997, 194.
30 Eberhard 1786, 119–123.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur