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Die Bilder der Burg Karlštejn und die Erfindung(en) der Kunstgeschichte 115
Die Forderung des Böhmischen Landtages wurde in Wien eingehend geprüft.
Obgleich Heinrich Zimmermann als Leiter der Bibliothek des Kunsthistorischen
Hofmuseums davor warnte, die „Abgabe der Bilder nach Karlstein könnte einen
gefähr lichen Präcedenzfall“84 darstellen, wurden die Gemälde auf kaiser liche Anord-
nung 1901 wieder nach Böhmen gebracht.85 Ob man sich tatsächlich nur vor weiteren
Rückgabeforderungen ängstigte? Niemandem im Wiener Machtzentrum konnte ent-
gangen sein, dass von den Karlštejner Bildern eine viel größere Gefahr ausging. Längst
war aus einer böhmisch-patriotischen eine tschechisch-nationale Angelegenheit
geworden, wobei gerade der mittelalter lichen Kunst innerhalb der nationalen
Identitäts(er)findung der Tschechen eine Schlüsselrolle zukam.86 1879 reklamierte
Karel Chytil die Wiener Kreuzigung aus Karlštejn (Abb.
4) für den böhmischen Meis-
ter Theoderich und wandte sich damit vehement gegen die etablierte Zuschreibung an
den deutschen Maler Wurmser.87 Die Karlštejner Malereien seien ein Produkt einer
völlig autonomen Prager Schule, deren Ursprung sogar noch vor Karl IV. in der
Přemysliden-Zeit zu verorten sei.88 Begründet wurde der sich hier formierende
Anspruch auf eine eigenständige Böhmische (bzw. Tschechische) Schule durch die
Betonung der Differenz zur deutschen Malerei. Eben dieser, hier nur angedeutete
Dualismus sollte – abstrahiert auf einen slawisch-germanischen Konflikt – die kunst-
historische Erforschung Karlštejns in den nächsten Jahrzehnten prägen.89 Die Ideen
und Konzepte Ehemants und Mechels – Teil einer ganz anderen Wissenskultur, geprägt
von einem noch völlig diffusen Nationenverständnis – erhielten eine ungeahnte
Dynamik und wurden derart selbst zum Ursprung eines neuen Denkens.
84 Wien, HHStA, OKäA, AZ 1155, Cah. 3, Heinrich Zimmermann, 24. Juni 1901.
85 Vgl. Helfert 1902, 8.
86 Zu dieser Thematik vor allem Bartlová 2016 und Filipová 2014, 167–150. Allgemein zur Rolle der
Kunst (und v. a. der Architektur) für die Herausbildung eines tschechischen Nationalbewusstseins
Marek 2004.
87 Bereits J. Q. Jahn schrieb die Kreuzigung Wurmser ab und Meister Theoderich zu; vgl. Jahn 1792, 12.
Dennoch blieb die (tatsächlich willkür liche) Zuschreibung an Wurmser lange bestehen; unter diesem
Namen wurde die Kreuzigung etwa mit den zwei Karlštejner Heiligendarstellungen Teil des napoleo-
nischen Kunstraubs und 1814 in Paris ausgestellt; vgl. Notice des Tableaux des Écoles Primitives
1814, 90–91. Die Aufteilung der Werke zwischen Wurmser und Meister Theoderich findet sich auch
noch in den Galerieverzeichnissen von Albrecht Krafft (1837) und Eduard von Engerth (Bd. 3, 1886).
Erst nach Chytils Veröffentlichung änderte sich die Zuschreibung: Eine Photographie aus dem späten
19. Jahrhundert (Abb. 4) zeigt die Kreuzigung jedenfalls noch im alten Galerierahmen (mög-
licherweise aus Mechels Zeit), aber bereits mit Verweis auf Meister Theoderich.
88 Chytil 1879, 270. Zu Chytil vgl. Filipová 2008, 109–113 und 227–230, sowie Rampley 2013, 92–93.
89 Für Wilhelm Worringer etwa gab es 1924 keine Zweifel mehr daran, dass es sich bei der malerischen
Ausstattung von Karlštejn um eine durch und durch slawische Kunst handle. Dazu eingehend
Bartlová 2016, 41–45. Worringer war bemüht, vor allem Unterschiede zwischen der westeuropäischen
und der slawischen Kunst zu erkennen: vgl. etwa Worringer 1924, 50, 53. Worringer argumentierte
durchaus rassentheoretisch, denn „neben dem entwicklungsgeschicht lichen Problem“ lag für ihn „das
Rassenproblem“ (ebenda, 57). Er sah in Karlštejn gemalte Köpfe, die „weich, quallig, in amorpher
Massigkeit quellen“, konstatierte der Malerei ein „Dumpfklingen“, dem „etwas Verwunschenes,
Tragisches und Bedrücktes“ (ebenda, 69) innewohne, oder sprach von „unartikulierter Massigkeit der
Form“ (ebenda, 58).
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur