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128 Hans C. Hönes
Lehrgebäudes zu liefern“.5 Die viel beschriebene Spannung zwischen Historizität und
normativer Ästhetik klingt hier deutlich an: „Das Wesen der Kunst aber ist [...] der
vornehmste Endzweck.“6 Winckelmanns Kunstgeschichte, obgleich historisch, ist
immer auch „schöne Wissenschaft“ im Wortsinn – eine Ästhetik.
Doch vornehm
liches Ziel des Werkes ist dennoch, „den Ursprung, das Wachs thum,
die Veränderung und den Fall [der Kunst], nebst dem verschiedenen Stile der Völker,
Zeiten und Künstler [zu] lehren“.7 Die entwicklungsgeschicht liche Intention zur
Reihenbildung ist dabei klar mit einer organizistischen Metapher von Wachstum und
Blüte umschrieben.8 Winckelmann macht zugleich explizit, dass er zur Erfüllung die-
ser Reihenbildung auch Hypothesen inkludiert und Lücken in der Überlieferung füllt,
wobei diese vielleicht „durch eine spätere Entdeckung“ von der „Mutmaßung zur
Wahrheit“ werden. Entscheidend ist, dass er dies mit Verweis auf die Methoden der
Naturgeschichte legitimiert. Wie „das Gerüste zu einem Gebäude“, als Äquivalent zu
den „Hypotheses aus der Naturlehre“, sind diese Mutmaßungen „unentbehrlich,
wenn man, bey dem Mangel der Kenntniße von der Kunst der Alten, nicht große
Sprünge über viel leere Plätze machen will“.9 Vervollständigung in der Nachverfol-
gung der graduellen Entwicklung der Kunst zur Blüte ist offenbar angestrebt, um zu
einer neuartigen Morphologie künstlerischer Form zu gelangen.
Als Voraussetzung für diese methodische Innovation wird regelmäßig ein Umstand
genannt: die Verfügbarkeit an kunstgeschicht lichem Datenmaterial, das Winckelmann
in Rom vorfand, im Stadt- und auch im Sammlungsraum, wie den Kapitolinischen
Museen und der Villa Albani, wo er als Bibliothekar tätig war. Der aufstrebende
Kunsthistoriker hatte das „Glück, zu einer Zeit in Rom zu sein, in der es mehr Kunst
zu sehen gab als je zuvor“.10 Die Ressourcen der ewigen Stadt boten demnach die
bestmög lichen Bedingungen für eine komplette Beschreibung des Entwicklungsgangs
der Kunst; Lücken blieben bestehen, doch in Rom konnte man deren mehr füllen als
irgendwo sonst. Winckelmann selbst hat dies bekanntlich mehr als nur einmal betont:
Während man in Rom alles an einem Orte sehen könne, sei in anderen Städten, etwa
Wien, alles „nur einzeln“ vorhanden. Das Schöne in der Kunst könne „allein in Rom
völlig, richtig und verfeinert“ studiert werden.11 „Es ist schwer, ja fast unmöglich,
etwas gründ liches von der alten Kunst, und von nicht bekannten Alterthümern, außer
Rom zu schreiben.“12
Der Sammlungsraum erscheint hier als methodologischer Gründungsort, in dem
Winckelmann zahllose Objekte mental oder tatsächlich in historischen Entwicklungs-
folgen, in einem systematischen Entwurf arrangieren konnte. Folgt man dieser
5 Winckelmann 1764, ix.
6 Ebenda. Vgl. Potts 1994b, 11–30.
7 Winckelmann 1764, x.
8 Vgl. Décultot 2007a, 13–30.
9 Winckelmann 1764, xxiv.
10 Sheehan 2002, 28.
11 Winckelmann (Rehm 2002b), 225.
12 Winckelmann 1764, xx.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur