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130 Hans C. Hönes
antiken olympischen Stadion einer vollständigen Sammlung griechischer Bildhauerei
ansichtig wird. Vor ihm stehen „Wunderwerke der Kunst zu Tausenden“, aufgereiht
entlang der „Bahn“ des Stadions.18 Hier wird die Idee einer umfassenden Kunst-
geschichte klar als räum
liches, also quasi-museales Arrangement artikuliert. Der
Sammlungsraum ist die ideale Voraussetzung für den Autor einer Kunstgeschichte:
„Ohne diese Sammlung und Vereinigung derselben wie unter einen Blick ist kein rich-
tiges Urtheil zu fällen.“19
Doch dies ist eben nur ein Traum. Wenn Winckelmann tatsäch liche Museums-
räume beschreibt, scheint diese Idee des entwicklungsgeschicht lichen Arrangements
entlang einer „Bahn“ kaum zu verfangen. Wo er sich mit der Aufgabe der Beschrei-
bung einer real existierenden Sammlung konfrontiert sah, bleibt Winckelmann viel-
mehr überraschend unhistorisch. In einem Brief über die Sammlung Stosch an
Christian Ludwig Hagedorn, datiert auf Januar 1759, erklärt Winckelmann gleich zu
Beginn, dass die „Zeit und die Gränzen eines Briefes“ limitiert seien und er sich daher
„auf Beschreibung der wichtigsten, schwer zu erklärenden und schönsten alten Steine
und alten Pasten [hat] einschränken müssen“.20 Der Historizität der Kunst widmet er
sich hier jedoch ausdrücklich nicht, sondern nur der „Beschreibung des Schönen in der
Kunst“. Die diskutierten Beispiele sind nicht einmal in chronologische Reihenfolge
gebracht; die Diskussion der „Classe von egyptischen Steinen“ folgt etwa erst nach
einer Anzahl von griechischen Beispielen.21 Sein Anliegen ist es dezidiert nicht, die
Beispiele unter historischen Vorzeichen zu beschreiben und zu ordnen. Das Einzel-
werk steht im Vordergrund; die Analyse der Schönheit verlangt Fokussierung anstatt
Vergleich.22
Doch auch wenn Winckelmann historisch argumentiert, scheint der konstitutive
und rhetorisch überzeugende Moment in seiner Kunstgeschichte mehr in einer Armut
an Material zu liegen; der Kunsthistoriker kommuniziert sein historisches System
bevorzugt an einer extrem reduzierten Anzahl von Beispielen, die exemplarische Stil-
stufen repräsentieren. Die römischen Sammlungen, bisher vornehmlich als expansive
Ansammlung des vollen Reichtums der Kunst verstanden, sind dabei ein entscheiden-
der Zwischenschritt für Winckelmann, um eine Komprimierung historischer Informa-
tionen zu erreichen.
Besonders deutlich wird dies in dem wahrscheinlich ausführlichsten Text, den
Winckelmann je der Beschreibung einer Sammlung, nämlich der Villa Albani, gewid-
met hat.23 Dieser Text scheint aus mehreren Gründen ein interessanter Fall zu sein, da
er einerseits ein nahezu komplett abstraktes System der Geschichtsentwicklung
18 Winckelmann 1776, 246.
19 Ebenda. Vgl. Ernst 1992, 101.
20 Winckelmann (Rehm 2002a), 163–168, hier 164.
21 Ebenda, 165–166.
22 Ebenda, 165. Auch das Projekt der Geschichte scheint hier insgesamt noch stärker normativ aufge-
fasst, vgl. 168: „Sie werden Sich entsinnen, daß ich eine Beschreibung der schönsten Statuen nach
ihrem Ideal, und nach der Kunst angefangen hatte.“
23 Das Standardwerk zur Sammlung Kardinal Albanis bleibt Beck / Bol 1982.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur