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Winckelmann im Sammlungsraum: Armut macht Geschichte 133
Es folgt die griechische Kunst. Hier definiert Winckelmann bekanntlich vier Stile:
„der ältere Stil“, „der höhere Stil“, der „schöne Stil“ und die Zeit des Verfalls.31 Diese
Einteilung macht bereits deutlich, dass es sich um ein weites Feld handelt, und
Winckelmann betont (wie schon im Bericht über die Sammlung Stosch, den er an
Hagedorn sandte), „daß dieses keine Abhandlung für Briefe ist“. Er will sich daher
„begnügen, Ihnen eine Statue bekannt zu machen, welche nach der Giustinianischen
Pallas die älteste Statue in Rom scheinet“.32 Sie gehört in den „hohen Stil“, in die Zeit
des Praxiteles (Abb. 2). Es folgt eine Beschreibung, die wiederum recht detailliert
Charakteristika der Körperbildung und die Gestaltung des Gewands hervorhebt;
Winckelmann analysiert das „Oval“ des Kopfes, beschreibt, wie „die Wölbung unter
dem Kinne“ gestaltet ist, und kommentiert die „großen Falten“ des Mantels.33 Als
letztes Werk erwähnt Winckelmann kurz den Apollo von Belvedere, dessen Kopf
„vielleicht der einzige in der Welt ist, den wir in deßen ursprüng
lichen Schönheit
sehen“. Der Brief endet mit dem Hinweis, dass auf so kurzem Raum unmöglich alles
gesagt werden könne, und Stosch unbedingt nach Rom kommen müsse, um diese
Wunder mit eigenen Augen zu sehen.
Komplexitätsreduktionen
Man mag geneigt sein, diesen kurzen Text als eine Gelegenheitsschrift abzutun.
Winckelmann selbst scheint diesen Verdacht zu erhärten, als er Jahre später in einem
Brief an seinen Freund Leonhard Usteri schrieb: „Die Beschreibung der Villa des Hrn.
Cardinals ist sehr unvollständig und war damahls gut genug einem Prinzen vorgelesen
zu werden“, sie genüge also wissenschaft lichen Ansprüchen nicht.34 Genau dies ist
aber nur bedingt der Fall, denn der Text wurde sehr wohl der Fachöffentlichkeit
zugänglich gemacht. Stosch, der Empfänger der Beschreibung von 1761, hat offenbar
eine Übersetzung ins Englische veranlasst, die dann auf einer Versammlung der Lon-
doner Society of Antiquaries in Burlington House verlesen wurde. Zurecht erkannte
die Zuhörerschaft, wie eine Randnotiz in den Sitzungsprotokollen bestätigt, darin „the
groundwork of Winckelmann’s ‚Histoire de l’Art chez les Anciens‘“.35
Die kurze Beschreibung der Villa Albani diente also für nichts weniger als die erst-
malige Vorstellung von Winckelmanns Gedanken vor einem der wichtigsten Gelehr-
tenverbände der Zeit. Winckelmann war kurz zuvor auf Vorschlag des römischen
31 Ebenda, 138: „Um mich deutlich zu erklären, muß ich hier die verschiedenen Alter und Stile der
Griechischen Kunst anzeigen, deren Vier zu setzen sind: der ältere Stil, welcher etwa bis gegen die
Zeiten des Phidias gedauret hat; der andere bis auf den Praxiteles, und diesen kann man den Hohen
Stil nennen; der dritte welcher bis an das Ende der Freyheit von Griechenland geblühet, und diesen
nenne ich den Schönen Stil; der vierte, in welchem die Kunst sich neigte und fiel.“
32 Ebenda.
33 Ebenda, 139.
34 Winckelmann 1764–1768 (Rehm 1956), 10. Der genannte Prinz ist wohl der sächsische Kurprinz
Friedrich Christian – es scheint daher plausibel, dass eine weitere Abschrift/Version des Textes nach
Dresden gesandt und dort verlesen wurde; vgl. Tavernier 1986, 78.
35 Society of Antiquaries London, Minute Book VIII, 1757–1762, 11. Juni 1761, 343–349.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur