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Winckelmann im Sammlungsraum: Armut macht Geschichte 139
des ägyptischen Stils, ist zeitlich weit nach der etruskischen Kunst zu verorten. Das-
selbe gilt für die griechische Archaik, der Winckelmann in der Geschichte einen Ein-
fluss auf die zweite Stilstufe der etruskischen Kunst zuerkannte.53
Auch die scheinbare Verkettung der Stile der verschiedenen antiken Völker ist
ungewöhnlich für Winckelmann. Eigentlich entwarf er in der Geschichte ein System,
das versucht, nationale Traditionen getrennt voneinander zu halten. Gleich zu Beginn
des Buches legte er bekanntlich seine klimatheoretischen Überlegungen dar, nach
denen ein jedes Volk die Kunst bei sich gefunden habe; Einflüsse zwischen den antiken
Zivilisationen, insbesondere zwischen Ägypten und Griechenland, sind demnach auf
ein Minimum reduziert.54
In der Beschreibung der Villa Albani wird dagegen ein direkter stilhistorischer
Entwicklungszusammenhang in der Darstellung von Anatomie und Gewändern sug-
geriert; diese können wohl eher als „Pseudomorphismus“ denn als echte Dokumenta-
tion gradueller Veränderung bezeichnet werden. „Pseudomorphismus“, ein Begriff,
den Erwin Panofsky eingeführt hat, meint den irrigen Rückschluss auf eine kausale
Verbindung anhand von visueller Ähnlichkeit.55 Winckelmann, so scheint es, benutzt
diese Technik intentional, um seiner strikt normativ gedachten Stufenreihe der Kunst
der Antike den Flair einer historischen Abfolge zu geben.
Kulminationspunkte
Winckelmann wurde bekanntlich gerade von Künstlern mehr als Ästhetiker denn als
Historiker gelesen. So orientierte sich die Abgusssammlung der Wiener Akademie der
bildenden Künste in ihrer Einkaufspolitik klar an den Leitlinien, welche die Geschichte
der Kunst des Alterthums vorgab, und es wurden bevorzugt die dort gepriesenen
Werke gekauft. Eine chronologische oder systematische Ordnung der Gipse folgte
daraus jedoch nicht; im Abgusssaal der Wiener Akademie wurden die Skulpturen viel-
mehr jede Woche nach neuen ästhetischen Bedürfnissen umgruppiert.56 Ein solcher
Umgang mit der Geschichte ist durchaus gerechtfertigt, war das Buch doch, wie
erwähnt, explizit nicht nur ein historisches Traktat, sondern auch eine Lehre von der
Schönheit: Die historische Analyse der Formentwicklung steht immer auch im Dienste
der Suche nach dem Ideal.
In der Beschreibung der Villa Albani scheinen beide Ziele rhetorisch in eines zu
fallen, endet die historische Erzählung doch mit einem Meisterwerk. In dieser
Hinsicht antizipiert das hier vorgestellte Modell spätere Klassizisten wie etwa David
Pierre Giottino Humbert de Superville. Der Niederländer entwarf Pläne für ein
53 Winckelmann 1776, 174–175.
54 Ebenda, 5–6: „Es scheynt, daß die Kunst unter allen Völkern, die dieselbe geübet haben, auf gleiche
Art entsprungen sey, und man hat nicht Grund genug, ein besonders Vaterland derselben anzugeben:
denn den ersten Saamen zum Nothwendigen hat ein jedes Volk bey sich gefunden.“
55 Panofsky 1964, 25.
56 AK Antike in Wien 2002, 17 und 24.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur