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Winckelmann im Sammlungsraum: Armut macht Geschichte 141
Kunstmuseum, dessen Architektur einen spiralen Aufstieg inszenierte, an dessen Ende
der Besucher des Apollo von Belvedere ansichtig wird (Abb. 4).57 Hier wird freilich
kaum ein historistisches Entwicklungsdenken zu visualisieren (oder auch nur zu sug-
gerieren) gesucht, sondern das Gegenteil, ein normierender Initiationsritus des
Betrachters beabsichtigt.
Diesem Zweck einer Geschmacksschulung und Determinierung dient auch die
Anlage der Beschreibung der Villa Albani. Lückenhaftigkeit der historischen Beschrei-
bung wird hier dem Reichtum und Überfluss der römischen Kunstschätze vorgezo-
gen. Winckelmanns Erkenntnisinteresse scheint weniger in historischer Genauigkeit
zu liegen, als mehr die Datenmenge zu reduzieren, um die Stilgeschichte in einem
ästhetischen Gipfelpunkt kulminieren zu lassen. Unser Autor inszeniert ein pseudo-
historisches Argument zugunsten einer Würdigung der griechischen Schönheit, die
eine Aufhebung des analytischen Blicks ermöglicht.
Winckelmann, der Sohn eines Schusters, wuchs ohne Kenntnis größerer Werke der
Kunst auf. Die Forschung hat dies durchaus als Vorteil angesehen, schulte diese Armut
doch die Aufmerksamkeit und Andacht, wenn man dann schließlich der wahren
Schönheit ansichtig wird.58 Kenneth Clark hat diesen Gedanken vielleicht am schöns-
ten formuliert, als er darüber reflektierte, warum die größten englischen Kunstschrift-
steller wie William Hazlitt und John Ruskin aus puritanischen Haushalten stammen:
Der Mangel an gutem Geschmack in ihrer Kindheit hätte ihren Hunger für Kunst
aufrechterhalten, anstatt sie zu früh zu sättigen.59
Winckelmann selbst argumentierte ähnlich: „Wären die Alten ärmer gewesen, so
hätten sie besser von der Kunst geschrieben.“60 Winckelmann, dessen sozioökonomi-
scher Hintergrund kaum niedriger hätte sein können, war dieser Logik zufolge prä-
destiniert, gut über Kunst zu schreiben. Seine größten Leistungen als Kunstschriftstel-
ler galten dementsprechend der emphatischen Beschreibung singulärer Werke, deren
Wirkung nicht durch analytische Vergleiche kompromittiert wird. In diesen Passagen
– die Beschreibung des Torso Belvedere ist die berühmteste – gelingt es Winckelmann,
eine „schöne Wissenschaft“ auch im literarischen Sinn zu erreichen und die volle
künstlerische Komplexität der verehrten Werke einzufangen.61
Um dieser idealen Schönheit nahezukommen, muss der Kunstschriftsteller die
Analyse beiseitelassen: „Denn alles, was wir getheilt betrachten müssen [...] verlieret
dadurch von seiner Größe.“ Die herausragende Qualität der „hohen Schönheit“ ist
ihre „Einheit“, und daraus folgt auch „die Unbezeichnung derselben, das ist, deren
Formen weder durch Punkte, noch durch Linien, beschrieben werden“.62 Entsprechend
57 Vgl. Stafford 1976, 21–34.
58 Z. B. Onians 2007.
59 „To be brought up in an atmosphere of good taste is to have the hunger for art satisfied at too early
an age, and to think of it as a pleasant amenity rather than an urgent need“, zit. nach Stourton 2016,
15–16.
60 Winckelmann 1776, 880.
61 Dies auch als Aufhebung temporaler Distanz vgl. Zinnenburg Carroll 2005, 261–269.
62 Winckelmann 1776, 261–262.
Schöne Wissenschaften
Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Titel
- Schöne Wissenschaften
- Untertitel
- Sammeln, Ordnen und Präsentieren im josephinischen Wien
- Autor
- Nora Fischer
- Herausgeber
- Anna Mader-Kratky
- Verlag
- Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Ort
- Wien
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7001-8642-7
- Abmessungen
- 20.9 x 29.3 cm
- Seiten
- 306
- Kategorie
- Kunst und Kultur