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Die italienische Führungsschicht und die Entstehung der österreichischen Republik
Für eine möglichst tiefgreifende Analyse der Vorkommnisse sei darauf hin-
gewiesen, dass sich Italien bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
dert mit ersten Krisensignalen innerhalb der großen multinationalen und
dynastischen Gebilde konfrontiert sah und die Emanzipationsforderungen
wahrnahm, die von den verschiedenen Völkern immer vehementer erho-
ben wurden. Generell kann behauptet werden, dass sowohl die italienische
Führungsschicht als auch die Öffentlichkeit aufgrund ihres im Risorgimento
und Postrisorgimento verwurzelten kulturellen Hintergrunds an der lang-
fristigen Überlebensfähigkeit der großen Monarchien zweifelten. Mit dieser
allgemein verbreiteten Meinung gingen auch aus praktischer Sicht viele Un-
sicherheiten und Bedenken einher; Italien war sich seiner Schwäche bewusst
und fürchtete, dass die durch die neuen Machtverhältnisse in Europa hervor-
gerufene Unordnung für jene Mächte besonders vorteilhaft sein würde, die
wirtschaftlich, militärisch und politisch besser dastanden als Italien selbst.
So begann ein ständiges Hinauszögern, es galt Zeit zu gewinnen. Mannig-
faltige Vorsichtsmaßnahmen wurden ergriffen und komplexe Abkommen
verhandelt, um unbedingt zu verhindern, dass sich Italien auf der Verlierer-
seite befände, wodurch sich das Land Vorteile und Gegenleistungen sichern
wollte1.
Hauptvertreter dieser politischen Gratwanderung war Antonino di
San Giuliano, der diese Politik in Zusammenhang mit der Krise, die das Os-
manische Reich vor dem Krieg erschütterte, verfolgt hatte. Vor der Julikrise
von 1914 strebte der sizilianische Politiker scheinbar ein Abkommen mit den
ehemaligen Verbündeten des Dreibundes an, die Italien zumindest einige
Gegenleistungen in den terre irredente sichern sollten. Da seine Vorschläge
ungehört blieben, fasste Antonino di San Giuliano das Angebot der Entente
1 In diesem Zusammenhang finden sich Überlegungen, die Gegenstand einiger Beiträge
über die italienische Politik des frühen 20. Jahrhunderts in Bezug auf das Osmanische Reich
sind: Francesco Caccamo, The Balkan Wars in the Perspective of the European Powers. The
Italian Case, in: War and Nationalism. The Balkan Wars, 1912–1913, and Their Sociopolitical
Implications, hrsg. von Hakan Yavuz und Isa Blumi (Salt Lake City 2013) 230–248; Ders., The
Ottoman Empire and the Eastern Question, in: The Libyan War (1911–1912), hrsg. von Luca
Micheletta und Andrea Ungari (Newcastle upon Tyne 2013) 175–191; Ders., Italy, Libya and
the Balkans, in: The Wars before the War, hrsg. von William Mulligan, Dominik Geppert
und Andreas Rose (Cambridge 2015) 21–40. Für eine umfassende Analyse siehe Luciano
Monzali, Italiani di Dalmazia. Dal Risorgimento alla Grande Guerra (Firenze 2004); Giam-
paolo Ferraioli, Politica e diplomazia in Italia tra XIX e XX secolo. Vita di Antonino di San
Giuliano 1852–1914 (Soveria Mannelli 2007).
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918