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Francesco Caccamo
ins Auge und arbeitete daher innerhalb weniger Wochen ein beachtliches,
noch erweiterbares Forderungspaket aus. In seinem letzten Vorhaben war
nicht nur von Triest und Trient die Rede, sondern auch von Südtirol und von,
mindestens, ganz Istrien und einigen Inseln in Dalmatien. Eigenartigerweise
hielt es San Giuliano für möglich, den Kriegseintritt Italiens an der Seite der
Entente auf einen späteren Zeitpunkt aufzuschieben, wenn der Konflikt be-
reits fortgeschritten sein würde oder sogar kurz bevor das Habsburgerreich
nach der Landung der Entente-Flotte in der Adria oder nach dem Vormarsch
der Armeen aus den kleinen und mittleren Balkanmächten entlang des Ost-
ufers zusammenbrechen würde. Das war also die bereits damals von vie-
len Zeitgenossen definierte testamentarische Hypothese, wonach Italien in den
Krieg ziehen würde, weniger um die Entente zu unterstützen als vielmehr
um zu verhindern, dass andere von der Auflösung Österreich-Ungarns an
seiner Stelle profitieren konnten2.
In diesem Beitrag wird nicht auf die einzelnen Etappen bis zum
Kriegseintritt Italiens eingegangen. Vielmehr soll besonderes Augenmerk auf
die Tatsache gelegt werden, dass die italienische Führungsschicht seit der
Julikrise mit der bevorstehenden Auflösung des Habsburgerreiches rechnen
musste. San Giuliano, der als einer der einflussreichsten Vertreter dieser Füh-
rungsschicht galt, strebte das nicht an. Durch undurchsichtige, teilweise ma-
chiavellistische Argumentationen und vermutlich aufgrund seines sich ver-
schlechternden Gesundheitszustands war der Außenminister eher bemüht,
Italien auf den eventuellen Zerfall des Habsburgerreiches vorzubereiten und
einen Weg zu finden, Italien danach eine angemessene Position zu sichern.
So wurde diese Politik auch nach seinem Tod, Ende Oktober 1914, fortgesetzt.
Ähnlich war die Einstellung des Generalsekretärs des Außenministeriums,
Giacomo De Martino, wie aus seinen ausführlichen Berichten, die er zwi-
schen 1914 und 1915 rund um das Dilemma „Neutralität oder Eingriff“ ver-
fasste, hervorgeht. Obwohl er für den Einsatz an der Seite der Entente plädier-
te, blieb der hohe Beamte der Consulta davon überzeugt, dass man in erster
Linie vermeiden sollte, dass sich Italien am Ende des Krieges auf der Seite
2 Siehe dazu die Interpretationen von Ferraioli, Politica e diplomazia in Italia, und
Francesco Caccamo, Il Montenegro negli anni della prima guerra mondiale (Roma 2008) so-
wie Ders., Italy, the Adriatic and the Balkans. From the Great War to the Peace Conference,
in: Italy in the Era of the Great War, hrsg. von Vanda Wilcox (Leiden 2018) 122–144.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918