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Die italienische Führungsschicht und die Entstehung der österreichischen Republik
naumonarchie nicht vorstellen konnte, porträtiert. Wenn man die Probleme
in Ostmitteleuropa berücksichtigt, die der Zusammenbruch Österreich-Un-
garns mit sich brachte, könnte diese Darstellung heute sogar als Kompliment
aufgefasst werden. Sie entspricht allerdings nicht der Realität. Generell wäre
es korrekter zu behaupten, dass der Mann an der Spitze der Consulta die
italienischen Forderungen in den Mittelpunkt stellte und sich enthielt, der
Entente umfassende Vorschläge über zukünftige Nachkriegsordnungen zu
unterbreiten und vor allem eine Agenda bezüglich der Aufteilung des Habs-
burgerreiches vorzulegen. Sonninos Haltung in dieser Hinsicht ließ und lässt
viel Interpretationsspielraum: Sie wird – wie allzu oft – als Kurzsichtigkeit,
als engstirniges Denken und Egoismus (auch bekannt als Sacro Egoismo) abge-
stempelt. Diese Zurückhaltung kann aber auch als Vorsichtsmaßnahme gese-
hen werden, da er sich bewusst war, dass Italien an seine Grenzen stieß und
kaum hoffen konnte, seine Meinung über die für das europäische Gleichge-
wicht ausschlaggebende Debatte über die Donaumonarchie im europäischen
Mächtekonzert durchzusetzen5.
Seiner Linie blieb Sonnino während der gesamten Kriegszeit, wenigs-
tens bis Mitte 1918, treu. Sie wurde im Laufe des Konflikts immer wieder
an die jeweils geltenden politischen oder militärischen Umstände angepasst:
Einmal plädierte man für die Auflösung Österreich-Ungarns, um am nächs-
ten Tag dessen Erhalt zu unterstützen. Verwunderlich ist dies aber nicht: Ge-
nauso verhielten sich nämlich die anderen Entente-Mächte und seit ihrem
Kriegseintritt auch die Vereinigten Staaten von Amerika, die allgemein als
die Verteidiger des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechts
galten. Das Problem lag darin, dass sich Italien auf der einen Seite und die
Entente-Mächte auf der anderen Seite immer zu unterschiedlichen Zeitpunk-
ten für die eine oder andere Option entschieden, was grundlegende Inter-
essens- und Wahrnehmungsunterschiede widerspiegelte6. Symptomatisch
5 Die oben erwähnten Beiträge zeigen, dass die erste Interpretation auf historiografi-
scher Ebene wohl am verbreitetsten ist. Bemerkenswert ist aber auch die Tatsache, dass
manche Persönlichkeiten, die der etwas abwartenden Haltung Sonninos gegenüber dem
Habsburgerreich nach dem Krieg kritisch gegenüberstanden, diese während des Krieges
teilten und unterstützen. Siehe dazu beispielsweise: Amendola a Albertini, 16 agosto 1917, in:
Giovanni Amendola, Carteggio, 5 Bde., hrsg. von Elio D’Auria (Roma–Bari, dann Manduria,
1986–2006) III.
6 Zu den umstrittenen Beziehungen Italiens innerhalb der Entente siehe: Luca Riccardi,
Alleati, non amici. Le relazioni politiche tra l’Italia e l’Intesa durante la prima guerra mon-
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918