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Die italienische Führungsschicht und die Entstehung der österreichischen Republik
kraft Deutschlands entziehen würde. Aufgrund dieser Ungewissheit und der
vielen lauernden Gefahren waren laut Sonnino die vollständige Erfüllung
aller im Londoner Vertrag niedergeschriebenen Forderungen sowie die Fest-
legung der italienischen Nordgrenze bis zur Wasserscheide zwischen Mittel-
meer und Schwarzem Meer und zum Brenner die einzige Garantie. Über sei-
ne Denkweise hat Sonnino, der eher zurückhaltend und misstrauisch gegen-
über der Presse war (sein Misstrauen wurde eben durch die vom „Corriere
della Sera“ über Monate hinweg betriebene Verleumdungskampagne noch
weiter verschärft), relativ wenig preisgegeben. Eindeutig waren allenfalls die
Worte, die er an einen Mitarbeiter zwei Wochen vor Kriegsende an der italie-
nischen Front richtete:
Nehmen wir an, der Krieg endet mit dem Zerfall Österreich-Ungarns, was
sehr wahrscheinlich der Fall sein wird, so würden sich die deutschsprachigen
Provinzen, die jetzt Teil des Reichs sind, fast schicksalhaft mit dem deutschen
Reich zusammentun, welches somit zu einem Nachbarstaat des italienischen
Königreichs werden würde. Diese Annahme birgt Gefahren für uns. Dem-
zufolge spielen unsere zukünftige Sicherheit und Unabhängigkeit sowie die
Festlegung einer Grenze zwischen zwei Staaten, wo der bestmögliche Mili-
tärschutz gegeben ist, eine ausschlaggebende Rolle. Diese Grenze kann nicht
von jener geographischen Grenze abweichen, die im April 1915 im Londoner
Vertrag bereits gezogen wurde und die bis zum Brenner läuft. Durch diese
Grenze soll ein Streifen Landes dem italienischen Königreich einverleibt wer-
den, der sich von Bozen aufwärts erstreckt und von einer deutschsprachigen
Bevölkerung besiedelt ist.12
12 Sonnino an Macchi di Cellere, 15. Oktober 1918, in: Sidney Sonnino, Carteggio, 3 Bde.,
hrsg. von Benjamin F. Brown und Pietro Pastorelli (Bari 1975) III 504–505 (doc. 358). So wie
der Außenminister darüber besorgt war, dass der Verfall des Habsburgerreiches zu einem
österreichisch-deutschen Anschluss führen würde, so machte sich der Leiter der „Tribuna“,
Olindo Malagodi, darüber bereits in den Monaten davor Gedanken. Der ehemalige Minis-
terpräsident Antonio Salandra meinte Folgendes: Er fürchtet, dass Deutschland durch die Auf-
lösung des österreichisch-ungarischen Reichs an unsere Grenze kommt und dass die österreichi-
schen Deutschen ins deutsche Reich einverleibt werden: Olindo Malagodi, Conversazioni della
guerra 1914–1919, 2 Bde., hrsg. von Brunello Vigezzi (Milano–Napoli 1960) II 380 f. (am 28.
August 1918). Es sei darauf hingewiesen, dass viele – angefangen von Malagodi selbst bis zu
der Gruppe des „Corriere della Sera“ – die Befürchtungen Sonninos als ein weiteres Zeichen
dafür interpretierten, dass er gegen die Auflösung des Habsburgerreiches war. Dass eine
solche Unterstellung nicht haltbar war, lag auf der Hand. Sogar Gaetano Salvemini, welcher
als eingefleischter Kritiker gegenüber dem italienischen Außenminister galt, behauptete,
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918